Wie ein junger Syrer Deutschland erlebte VON ABDALLA EL-DIMAGH 4. FEBRUAR 2016
ls er die erste PEGIDA-Demo in Leipzig miterlebte, fürchtete sich unser Autor. Die Reaktion der friedlichen Gegendemonstranten machte ihm jedoch Mut.
Bei der Diskussion um die Integration von Flüchtlingen in die deutsche Gesellschaft kommen diese selbst oft gar nicht zu Wort. Für Cicero berichtet der Syrer Abdalla El-Dimagh von seinen persönlichen Erfahrungen
Beim ersten Besuch einer deutschen Universität bemerkt man den Unterschied. In Syrien studiert man als Geisteswissenschaftler europäische Philosophie, Literatur und Geschichte. Begriffe wie Renaissance, Humanismus, Aufklärung und auch die Französische Revolution sind uns bekannt. Aber diese Werte sollen nur in den Büchern bleiben. Die Universität in Damaskus war wie ein Gefängnis. Dort kann man lernen, aber man soll nicht denken.
Das spiegelt sich auch in der Architektur wider: Eine Mauer steht rund um die Uni-Gebäude. An den Eingängen besteht Vorzeigepflicht für den Studentenausweis. Alle haben Angst. Irgendwann könnte ein Bericht eines Studenten über einen anderen bei den Sicherheitsbehörden landen. In Syrien gibt es fast 13 Sicherheitsdienstabteilungen. Sie kontrollieren alles – Märkte, Moscheen, Universitäten, Theater und Kino, dazu kommen Spitzel in den Bussen und an den Haltestellen. Das Regime entwickelte sich innerhalb der letzten 50 Jahre zum allmächtigen Gott. Deswegen lernt man schon im Elternhaus das Schweigen. Aus diesen menschenverachtenden Umständen wollte ich ausbrechen, ein freier Mensch sein. Ich kannte ja die europäischen Werte und wollte sie erfahren und leben. „Ein Mensch kann alles schaffen, wo ein Wille ist, ist auch ein Weg“, so sagte ich mir. Robinson Crusoe und Faust waren mir Inspiration. Fleißig und ehrgeizig habe ich gearbeitet, bis ich die Chance hatte, durch ein Stipendium von Erasmus-Mundus nach Europa zu kommen.
„Ich habe eine Verantwortung gegenüber dem europäischen Steuerzahler. Ich will die Freiheit genießen. Freiheit bedeutet aber auch Selbstverantwortung und Integration in die Gesellschaft“, das waren meine Gedanken, als ich im Flugzeug saß. Integration ist ein einfaches Wort, aber ein schwieriger Prozess, der Zeit, Geduld, Offenheit und Lernen erfordert. Ich habe mir ein Zimmer zur Untermiete bei einer deutschen Familie in Bremen gesucht. Eine neue Welt war das – für beide Seiten, aber inzwischen lachen wir über die ersten Missverständnisse damals.
Entdeckung einer neuen Welt Was prägte mein Leben als Neuankömmling? Da ist natürlich zuerst einmal das Essen. Kartoffeln. Das ist es, was die Deutschen immer und überall essen, so dachte ich. Mit der Zeit lernte ich viel dazu: Auch Fleisch – viel und in vielen Variationen – prägt die deutsche Küche. Ich kaufte mir ein Kochbuch und lernte deutsche Spezialitäten und Köstlichkeiten kennen und lieben. Kartoffelsalat, Rotkohl, Kasseler mit Sauerkraut, bayerische Weißwurst, schwäbische Käsespätzle (sowie auch Döner) wurden neben Falafel, Schawarma und Couscous ein Bestandteil meiner Mahlzeiten.
Das A und O für die Integration sind natürlich die Sprache und Kontakte zu den Einheimischen. Deutsch hatte ich bereits in Damaskus gelernt und mit der Zeit konnte ich viele Bekanntschaften und Freundschaften schließen und so lernte ich viele für mich fremde Riten und Gebräuche der Deutschen kennen: Ich esse Spekulatius und trinke Glühwein auf den Weihnachtsmärkten. Ostern suche ich Eier. Und ich verkleide mich an Fastnacht. Apropos Fastnacht: Das war mein erster richtiger Kulturschock in Deutschland. Auf einem hessischen Dorf mit verkleideten Menschen aller Generationen, die lauthals Stimmungsmusik grölten, stand ich mit meiner grünen Perücke knapp drei Minuten stillschweigend in der Ecke, um die Situation zu verstehen. Solche Feste haben wir bei uns nicht. Aber ich muss zugeben, es fing an, Spaß zu machen. * Zwischen den Fronten Bei der ersten LEGIDA-Kundgebung hatte ich Angst. Polizeiwagen, Rettungsdienste und Hubschrauber dominierten plötzlich die Leipziger Innenstadt. Ich hatte das Gefühl, dass sich das Land in einer Art Kriegszustand befindet. Ein Krieg zwischen dem demokratischen Deutschland, das ich bereits in vielen Facetten kennen und lieben gelernt hatte, und einem fremdenfeindlichen, antidemokratischen Deutschland. Fast 10.000 Menschen versammelten sich direkt vor meiner Haustür im Leipziger Stadtzentrum. Wem gehört Leipzig, wem gehört Deutschland? Florian machte den Vorschlag: Mit weiteren Kollegen und meinem französischen Mitbewohner machten wir uns auf den Weg, um gegen die menschenverachtenden LEGIDA-Parolen auf die Straße zu gehen. Fast 30.000 Leipziger standen da mit uns, die LEGIDA „nein“ und einem weltoffenen Deutschland „ja“ sagen wollten. Ich war von der Leipziger Zivilcourage sehr beeindruckt. Ich bekam Gänsehaut. Mit der Zeit wurde LEGIDA zu einer wöchentlichen Normalität. Jeden Montag haben wir die Abendspaziergänge, die immer weniger Anhänger finden, und jedes Mal sagen die Leipziger „nein, Danke“.
Die Katastrophe kam Anfang des Jahres. Wie jeden Morgen lese ich die deutschen Online-Zeitungen. Überall Berichte von Arabern, die Frauen in der Silvesternacht in Köln sexuell belästigt und sich extrem danebenbenommen haben. Ich war schockiert und wollte laut schreien und sagen: „Ihr Idioten, was habt ihr euch dabei gedacht?!“
Und gleichzeitig die eigene Betroffenheit: Nun werden wir alle über einen Kamm geschert. „Jetzt kann ich doch nicht mehr ausgehen, was werden die Leute denken, wenn sie mich sehen? Kann ich mir überhaupt noch ein Bier oder ein Abendessen in einem deutschen Restaurant genehmigen?“, fragte ich mich. Die Leute werden Angst vor jedem haben, der arabisch aussieht. Ich habe mich diskriminiert gefühlt und hatte Angst vor Ausgrenzung. Deswegen appelliere ich an die Deutschen: Diejenigen Flüchtlinge oder Migranten, die Gesetze verletzen, müssen hart und selbstbewusst nach deutschem Recht bestraft werden. Aber werft uns nicht alle in einen Topf! Wenn ein Migrant einen Fehler macht, dann ist das seine persönliche Schuld und nicht die Verantwortung aller Angehörigen seiner Nationalität. Wir sind genauso wenig alle gleich, wie alle Deutschen gleich sind.
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