Menschen in der Zeit: Gotthard Fuchs, Kirche ist keine moralische Anstalt
Neuer Pokal vor alter Kirche - AP
10/04/2016 15:25SHARE: Gotthard Fuchs, Jahrgang 1938, Studien der Philosophie, Theologie und Pädagogik, Priesterweihe 1963 in Paderborn, 1983 bis 1997 Direktor der Katholischen Akademie Rabanus-Maurus der Diözesen Fulda, Limburg und Mainz, seitdem Ordinariatsrat für Kultur, Kirche und Wissenschaft in den Bistümern Limburg und Mainz. Durchlaufend Seelsorge-, Bildungs- und Beratungsarbeit, Lehraufträge und Vorträge, zahlreiche Veröffentlichungen mit dem besonderen Schwerpunkt "Geschichte und Gegenwart christlicher Spiritualität im interreligiösen Gespräch“. Das ist - kurz gesagt - Pfarrer Dr. Gotthard Fuchs. Herr Dr. Fuchs, soeben hat Papst Franziskus sein drittes Pontifikatsjahr beendet. Drei Jahre sind für die Bewertung eines Pontifikats relativ wenig. Aber man kann es ausleuchten, sozusagen in ein Flutlicht stellen. Wie stellt es sich da? Wo liegen die Hauptakzente?
„Ich würde vom Gesamteindruck her erst einmal sagen, das Stichwort heißt Lebendigkeit. Ein ganz großes Gottvertrauen, das spürbar wird in einer spontanen Bejahung der Gegenwart, keine Träumereien nach hinten und nach vorne, und eine elementare Konzentration auf das Evangelium unter dem Stichwort Barmherzigkeit, was natürlich auch Gerechtigkeit impliziert.“
Anlass dieses Gespräches von heute, Herr Dr. Fuchs, war eigentlich der Titel eines Vortrags, den Sie vor kurzem in Österreich gehalten haben. Dieser Titel sprang mir sofort ins Auge. Er hieß „Kirche ist keine moralische Anstalt“. Was soll sie hingegen sein?
„Eine Dienerin des Evangeliums - und das Wunder und das Geschenk des Evangeliums lautet ja, dass wir uns auf einen Gott in Jesus Christus beziehen dürfen, der seine Sonne aufgehen lässt über Guten und Bösen und der einen universalen Heilswillen hat, also als der Schöpfer jedes Menschen. Jesus Christus als der Bruder aller Menschen zeigt eine göttliche, erbarmungsvolle, universale Offenheit, die quer steht zu einem Denken in moralischen Kategorien, jedenfalls in Spannung dazu. In gewisser Weise könnte man zuspitzen und sagen, das Evangelium, also die Rechtfertigung des Gottlosen, wie man auch sagte, ist im Kern unmoralisch oder trans-moralisch.“
Die Zahlen der Katholiken, wir wechseln das Thema, ist weltweit im Wachsen, außer in Europa. Vermutlich ist das Ansteigen der Zahl der Bevölkerung in Asien, Afrika und Lateinamerika als Grund dafür zu suchen. Wo jedoch liegt die Ursache der Verringerung der Zahl der Gläubigen, des Ausstiegs von Katholiken aus der Kirche bei uns in Europa?
„Die europäische Situation ist, denke ich, ganz wesentlich dadurch geprägt, dass das Christentum seit 2000 Jahren einen Prozess auch der Emanzipation und Säkularisierung hervorgebracht hat. Der Gott, an den wir Christen glauben, lässt ja die Welt frei in ihre Weltlichkeit und gibt den Menschen frei in seine Freiheit. Dieses Mysterium der Gottesfreundschaft, das in Freiheit, in wechselseitiger Freiheit sogar, sich vollzieht, hat ganz Europa geprägt weit über die Kirchen hinaus. Vieles Christliche, vieles genuin Christliche ist also säkularisiert präsent. Von daher ist es sehr gefährlich, finde ich, dass wir die Gegenwart des Christlichen in Europa fixieren auf die real existierenden, sichtbaren Kirchen. Das ist, glaube ich, der wichtige Unterschied zu anderen Kulturen, die später das Christentum kennen gelernt haben, natürlich auch anders als etwa zu USA, das eine ganze andere Verhältnisbestimmung von Staat und Kirche hat. Aber Europa ist natürlich durch diesen christlich mit initiierten Emanzipationsprozess heute in einer Krise, wo es neu, ganz neu, die Mitte des Evangeliums als seinen eigenen Schatz entdecken darf und entdecken muss. Das ist herausfordernd auch für die historisch gewordene Gestalt der Kirchen. Denn die Kirchen in Europa sind ja in gewisser Weise doch seit Konstantin, das darf man gerade hier in Rom sagen, imperial strukturiert. Wenn ich den jetzigen Papst richtig verstehe, will gerade er einen Abschied von dieser Kirchengestalt und stattdessen eine Kirchengestalt des Dienens, der Diakonie, der Barmherzigkeit.“
Wohin, Herr Dr. Fuchs, wird der Weg der nächsten Jahre oder vielleicht auch Jahrzehnte die Menschheit hinführen? Ich stelle diese Frage einem umsichtigen Seelsorger, Philosophen und Wissenschaftler. Wer wird die Zukunft bestimmen? Das Gute, das Böse, die Vernunft oder die Unvernunft?
„Diese Frage ist so alt wie Adam und Eva. Denn sie bezieht sich natürlich darauf, dass wir als Christen sagen, wir leben in einer wunderschönen, von Gott getragenen, bejahten und behüteten Welt, aber jenseits von Eden, also mit dem Stigma des Sündenfalls, das heißt mit einer strukturellen Tendenz aller Menschen zur Gier, zur Angst, zu kurz zu kommen und damit auch zur Gewalt. Von daher ist dieses Verhältnis von Vernunft und Unvernunft und ständig neu aufgegeben. Es hängt sicherlich für die Zukunft der Welt entscheidend davon ab, dass das Evangelium gelebt wird, dass es wach gehalten wird, gerade als eine Kraft, die das Vernünftige stark macht und das Unvernünftige heilt. In dieser Perspektive können wir als Christen gar nicht zuversichtlich genug sein, wie wir es die letzten 2000 Jahre auch waren. Aber es ist ein gigantische Epochenwandel. Ich brauche nur auf die Mediensituation hinzuweisen, auf das Gefälle von Arm und Reich und das dadurch entstehende gewaltige Gewaltpotenzial.“
Ich möchte jetzt wieder den Seelsorger und den Philosophen ansprechen. Wolfgang von Goethes berühmtes Wort „Verweile Augenblick, Du bist so schön“ ist weltbekannt. Kaum ein Seelenzustand signalisiert die Vergänglichkeit treffender als diese berühmte Aussage. Glück, aber zugleich das Wissen, dass es vergänglich ist, sprechen daraus. Gibt es einen sicheren Ort, wo der Schlüssel zur Überwindung der Vergänglichkeit verborgen liegt?
„Als Christ sage ich entschieden ja, denn seit Inkarnation und Ostern dürfen wir davon ausgehen, dass Gott endgültig zur Welt gekommen ist und sich nicht wieder abschieben lässt, sag ich mal, und dass in dieser Geschichte alle christlich glaubenden von der Gewissheit leben, dass Gott sich in allen Dingen finden lässt, auch in allen Zeiten, und dass Glauben ja das Geschenk ist, sich von ihm finden zu lassen in alle Dingen und ihn zu finden. Das spiegelt sich darin, dass dieses Goethewort von der Vergänglichkeit und von der Beschwörung des Augenblicks christlich gelesen einen anderen Akzent bekommt. Wenn zum Beispiel der junge Meister Eckart sagt „Mit Gott kannst Du nichts versäumen. So wenig Gott etwas versäumen kann, so wenig kannst Du mit Gott etwas versäumen.“ Diese genuin christliche Überzeugung, wenn Gott wirklich als der Kommende in allem schon begegnen will und begegnet, dann ist kein Augenblick gottlos. Das ist die Gegenwart und jeder Ort im Alltag ein Ort Gottes. Das zu leben, das hat auch das Konzil sehr schön in “Gaudium et Spes” formuliert, Nummer 22: „Gott hat sich in Jesus Christus mit jedem Menschen gleichsam vereinigt.“ Das gibt auch dem vergänglichen Augenblick und dem Stigma der Vergänglichkeit und auch er Sündigkeit eine ganz neue Perspektive, weil dann ein vom Evangelium gespeister, nicht billiger, sondern hoffnungsgeprägter Optimismus den Christen prägen soll, und dass das Wunder der Realpräsenz Gottes, dass wir in der Eucharistie natürlich besonders feiern, das gilt dann in Wahrheit für jeden Augenblick.“
Der christliche Glaube und die Institution Kirche sind nicht ein und dasselbe. Das zeigt die zweitausendjährige Kirchengeschichte deutlich auf. Den Glauben haben Sie, Herr Dr. Fuchs, kürzlich als „eine gigantische Erfolgsgeschichte“ bezeichnet. Welches Siegel würden Sie der Institution Kirche zuschreiben? Welche Schwächen und Angriffspunkte, aber ebenso welche Stärke und Substanz würden Sie in der Institution Kirche von heute hervorheben?
„Ich habe sogar gewagt, von der Kirche als einer gigantischen Erfolgsgeschichte zu sprechen, weil die 2000 Jahren Christentum die Welt nachweislich, das ist historisch und empirisch belegbar, verändert haben, hinsichtlich Menschwürden, Emanzipation der Frau, Sozialfürsorge. Wie sähe die Welt aus, wenn es das Evangelium nicht gegeben hätte. Man muss nur einmal zurückschauen in die Antike und auch in nicht-christliche Gegenden. Das ist kein Anlass zum Triumphalismus, aber es steht uns gut an, gerade heute im Dialog der Religionen, dass wir auch das Besondere, sozusagen den Schatz des Evangeliums profilieren und nicht verstecken. Vor diesem Hintergrund würde ich sagen, gehört es zur Größe gerade der Kirche, dass die Kirche seit frühesten Zeiten gesagt hat, dass man, wenn man glaub darf, niemals an die Kirche glaubt, sondern mittels, dank und trotz der Kirche. Die uralte, im Deutschsprachigen leider nicht so vermittelbare, ursprüngliche Differenz. Wir glauben an Gott und wir glauben die Kirche: “credere in deum und credere ecclesiam.” Noch der Katechismus von Trient hat das ganz stark gemacht und das letzte Konzil hat, zum Beispiel diesen unglaublichen Satz formuliert: „Die Kirche gesteht dankbar, dass sie selbst von ihren Gegnern und Feinden viel gelernt hat und lernt.“ Das steht in Gaudium et Spes 44.“
Das vielstimmige Europa hat in Bezug auf das Flüchtlingsproblem die Probe zur konkreten Nächstenliebe nicht oder nur halbherzig bestanden. Die vielfache päpstliche Mahnung zur Barmherzigkeit ist nur teilweise auf offene Ohren gestoßen. Die Chance, ein guter Christ zu sein, ist offenkundig nicht oder nur teilweise angenommen worden. Wie wird die Geschichte einst über diese Haltung urteilen?
„Ich wäre da zuversichtlicher, wenn man in etwas größeren Zeiträumen denkt und wenn man das Verhalten jetzt in Europa und auch in den USA, also in christlich geprägten Ländern vergleicht etwa mit muslimisch, buddhistisch oder hinduistisch geprägten Ländern. Man wird auch fragen dürfen Richtung Russland: „Was haben denn diese Länder getan im Blick auf die Flüchtlinge bisher und was geschieht in christlichen Ländern? Die Türkei handelt jetzt auch und sofort Jordanien, aber, dass das Ganze eine unglaubliche Herausforderung ist, der wir uns stellen müssen, an der sich neu zeigen muss, was Christlichkeit ist, ist evident. Was geschehen ist, ist immer noch nicht genug, aber es ist auch nicht nichts. In der Richtung müssen wir natürlich neu auch einen nachchristlichen Humanismus mit einem christlichen Humanismus ins Gespräch bringen in der Offenheit, die der Papst zum Beispiel immer wieder promulgiert und auch der letzte Papst ja sehr unterstrichen hat.“
Ich hätte noch eine Frage. Es heißt „Der Glaube befreit die Hoffnungslosigkeit.“ Eine Frage für den Vorhof der Völker, auch eine Frage für Kardinal Ravasi zum Beispiel. Ich denke, es gibt wenige Menschen, Herr Dr. Fuchs, welche die historische und die biblische Gestalt von Jesus Christus, seiner erhabenen und kompromisslosen Haltung, Lebenshaltung, seinem eindrucksvollen Wirken nicht mit größter Achtung und Bewunderung begegnen - aber es gibt viele Menschen, die sich schwer tun, Jesus als Sohn Gottes anzunehmen. Das ist eine Kernfrage, das ist mit bewusst.
„Der ökumenisch bekannte und bedeutende Theologe Dietrich Bonhoeffer hat einmal gesagt: „Jede Zeit und jeder Mensch muss für Jesus den höchsten Namen finden, den sie zur Verfügung haben.“ Alle Jesus-Titel, auch schon im Neuen Testament sind ja Liebeserklärungen. Die damalige Zeit des Neuen Testamentes und der frühen Kirche hat die damals verfügbaren Ehrentitel aus der damaligen Welt aufgenommen, um damit das Höchste von Jesus zu sagen, was sie sagen können. Dazu zählt auch der Titel „Sohn Gottes“, den bekanntlich der Kaiser von Rom gewählt hat, der damals für große Gestalten, sagen wir mal, in Kultur und Politik und Religion selbstverständlich war und nicht, sozusagen, diese metaphysische Dimension hatte, die wir damit verbinden. Von daher sind wir heute in einer Schwierigkeit, weil wir einerseits die Glaubensbekenntnisse von damals haben und das Neue Testament, es aber nicht eins zu eins wiederholen können, weil wir in einer anderen Kultur sind. Die großen Theologen, Karl Rahner etwa oder Urs von Balthasar, haben sich ihr Leben lang daran abgearbeitet, was die Kirche und das Neue Testament damals gesagt hat. Deswegen müssen wir das heute sagen mit Titeln, die womöglich neu sind und auf den ersten Blick in einer gewissen Spannung stehen zu den Überlieferten. Nicht jeder, der heute sagt: „Ich glaub nicht an Jesus, den Sohn Gottes“ ist deswegen ein schlechter Christ, weil er mit Sohn Gottes etwas völlig anderes verbindet als die Konzilien damals und das Neue Testament. Um bei Bonhoeffer zu bleiben: Er hat zum Beispiel gesagt „Jesus ist der Mensch für Andere.“ Er hat also die Proexistenz, die Hingabe Jesu so in den Mittelpunkt gestellt und das auf seine Weise zu formulieren versucht, ganz Jesus ähnlich mit einer förmlichen Christus-Mystik. Das ist nur ein Beispiel. Es gibt viele andere. Natürlich muss vermieden werden, dass Jesus nur ein moralisches Vorbild ist, in christlicher Perspektive. Es muss vermieden werden, dass er nur ein großer Prophet ist wie auch im Islam zum Beispiel. Wir verbinden als Christen mit Jesus das Geheimnis der nicht nur Gegenwart Gottes in einem allgemeinen Sinne, sondern wir sagen, in ihm, wie der Kolosser Brief das schon sagt, ist die Fülle der Gottheit oder wie der Mystiker Johannes von Kreuzer es wunderbar gesagt hat: „In Jesus hat Gott uns alles gesagt, was er zu sagen hat und seitdem ist er gleichsam verstummt“, weil er in Jesus Christus, dem Wort Gottes, auch so ein Titel, alles gesagt hat. Auf dieser Linie würde ich die kostbaren Jesus-Titel der Tradition natürlich hochhalten, aber wir müssen sie übersetzen und müssen daran erinnern, dass wir sie nicht einfach nachplappern können. Vieles, auch in Richtung modernem Atheismus, ist dadurch entstanden, dass die Kirche zu denkfaul geworden ist und zu wenig übersetzungskreativ. Das ist auch heute eine große Not und ich verstehe das Wirken des jetzigen Papstes auch so, dass er sozusagen das diakonische, das kulturelle Klima so vom Zentrum des Evangeliums her erschließt, dass dann auch die Jesus-Bekenntnisse einen ganz anderen Sitz im Leben haben, weil man weiß, es ist nicht ein Streit um Worte, sondern es geht um einen „Way of Life“, es geht um eine Art zu existieren im Leben und im Sterben.“ (rv 16.04.2016 gs)
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