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  • 22.06.2016 00:33 - Das Boot, der Tod, das neue Leben
von esther10 in Kategorie Allgemein.

Das Boot, der Tod, das neue Leben


Christopher Hein - RV

21/06/2016 10:24SHARE:

Mehr als 3.000 Migranten sind bisher in diesem Jahr im Mittelmeer ertrunken beim Versuch, Europa zu erreichen. Eine Zahl, die einem im Hals steckenbleibt. Am Montag war Weltflüchtlingstag, am Dienstag ist wieder Alltag, und der heißt: Balkanroute zu, Mittelmeer-Route weit offen, Dramen vor den Küsten Italiens.

„Die 3.000 Ertrunkenen sind Menschen aus Nordafrika oder dem Nahen Osten, die verzweifelt versucht haben, nach Italien oder Griechenland zu gelangen“, sagt Christopher Hein, Sprecher des Italienischen Flüchtlingsrates. „Das Tragische ist, dass das heute, morgen, übermorgen wieder passieren kann. Es gibt gar keine Politik, die in der Lage wäre, diese Tragödie im Mittelmeer zu verhindern.“

Man müsste „irgendwie herauskommen aus dieser Perspektive des ständigen Notstands“, überlegt Hein, ein alter Weggefährte des Grünen-Politikers Joschka Fischer. Was jetzt dringend wäre aus seiner Sicht: „Humanitäre Kanäle zu öffnen. Damit die Menschen nicht mehr ihr Leben auf dem Meer riskieren, und keine Schleuser mehr bezahlen müssen. Und dann bräuchte man auch eine solidarische, einheitliche Antwort der EU. Man kann sich doch nicht mehr auf die eigenen Grenzen zurückziehen – das führt doch zu nichts!“

Immerhin hat es in den letzten Monaten „eine enorme Mobilisierung der Bürgergesellschaft in vielen europäischen Staaten gegeben“, notiert Hein, „auch in politisch verschlossenen Staaten wie Ungarn und Österreich.“ Das sei das Positive, was sich feststellen lasse.

Dass im Moment weltweit mehr Menschen auf der Flucht sind als je zuvor, hat aus seiner Sicht mit der Globalisierung zu tun – und die Bewegung werde nicht so schnell wieder verebben. „Wir sollten nicht nur auf Themen wie Asylrecht oder Recht auf Aufnahme stasrren, sondern schon zur Kenntnis nehmen, dass sich in Italien wie in anderen Ländern die Bevölkerung um neue Elemente bereichert. Wozu gehören wir denn eigentlich? Zu einer Nation oder einem Fußballverein? Oder nicht doch zu einem größeren Ganzen, durch das wir auch bereichert werden können? Wenn von Globalisierung die Rede ist, geht es meistens um Wirtschaft. Aber mit dieser wirtschaftlichen Globalisierung geht eben auch eine umfassendere einher – das hat mit dem friedlichen und solidarischen Zusammenleben der Völker unserer Erde zu tun.“

„Wir wählten den wahrscheinlichen Tod“

Jetzt mal konkret: Aweis Alba gehörte zu einem Fußballclub, zur somalischen Nationalmannschaft sogar. Aber jetzt ist er Flüchtling, er hat’s nach Italien geschafft, dort beherbergt ihn derzeit das von Jesuiten geleitete „Centro Astalli“ in Rom. „In Somalia ist Fußball verboten worden, als die Shabaab-Milizen kamen; man konnte nicht mehr Fußball spielen, man konnte überhaupt nicht mehr frei sein. Dabei hatte ich fast nur für den Fußball gelebt... Ich habe sechs Schwestern, die noch mit meiner Mutter in Somalia leben; ich verkaufte DVDs, CDs und Kosmetik, um meine Familie zu unterhalten. Aber dann verboten die Shabaab auch das Musikhören. Sie sagten mir: Du musst dein Geschäft schließen, und du darfst auch nicht mehr Fußball spielen. Ich antwortete: Ihr sagt mir damit, dass ich eigentlich gar nicht mehr leben darf!“

Auf die Dauer war Aweis Alba dem Druck der islamistischen Milizen nicht mehr gewachsen. „Sie riefen mich an und sagten: Wenn du nicht dein Geschäft dichtmachst, bringen wir dich um. Und ich sagte: Ich kann das nicht schließen! Daraufhin beschlossen sie, mich zu töten. Sie brachen in mein Haus ein; zum Glück war ich gerade nicht da. Meine Mutter rief mich an und sagte: Hier sind die jungen Leute von der Shabaab, die wollen dich töten – komm bitte nicht nach Hause zurück!“

Das war für ihn Tag eins seiner Flucht: raus aus der Hauptstadt Mogadischu. Durch die Wüste nach Libyen. „Das hat einige Zeit gedauert – ich musste durch Kenia, Uganda und den Sudan durch. Und dann durch die Wüste: Wir waren fast 150 Leute, in einen alten Lastwagen gepfercht. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie die meisten während dieser Fahrt starben. Ich selbst verlor das Bewußtsein und wachte in einem libyschen Gefängnis auf. Die Wärter verlangten Geld, sonst würden sie mich hierbehalten. Ich zahlte, dann kam ich nach Tripolis, von dort wollte ich weiterreisen.“

Weiterreisen an den Strand – um nach Europa überzusetzen. „Die Libyer, die wir bezahlt hatten, sagten uns, wir sollten ins Boot steigen und nach Italien fahren. Wir fragten sie: Wo ist denn Italien? Und sie: Immer geradeaus, orientiert euch an diesem Stern da. Einfach geradeaus. – So war das. Und wir sagten uns: Wer nichts riskiert, gewinnt auch nichts; wir sollten unser Leben riskieren, um uns zu retten! Wir hatten ja keine andere Wahl; in Libyen zu bleiben, hätte den sicheren Tod bedeutet. Wir wählten also stattdessen den wahrscheinlichen Tod. Zum Glück kam aber auf unserem Boot niemand ums Leben! Alle 45 Personen – die meisten waren Frauen – konnten sich retten. Wir erreichten Lampedusa, und sofort danach hat man mich hierhin nach Rom gebracht, wo ich um Asyl gebeten habe. Seit sechs Monaten bin ich nun hier. Das ist, als würde man ein völlig neues Leben anfangen: Du kennst keinen, sprichst kein Italienisch, kommst aus Afrika...“

Aweis Alba hat auch eine Weile auf der Straße gelebt, bevor das „Centro Astalli“ ihn aufnahm. In Rom hat er schon mehrmals den Papst gesehen: „Das ist einer von uns!“, sagt er. „Und es stimmt auch, was er sagt: Wir sollten versuchen, den Italienern diese Angst zu nehmen, dass wir ihnen ihre Arbeitsplätze wegnehmen. Wir können Freunde und Geschwister sein! Wir sind weggelaufen, aber nicht, weil wir die Wahl gehabt hätten; wir sind nur mit unserem Leben nach Italien gekommen. Wir versuchen hier, neu anzufangen, mit euch Italienern. Wir könnten doch versuchen, uns gegenseitig kennenzulernen und Freunde zu werden!“
(rv 21.06.2016 sk)
http://de.radiovaticana.va/news/2016/06/...e_leben/1238753



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