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12.03.2017 00:30 - Fukushima: Kranke Kinder stören Japans "Wiederaufbau" Die wachsende Zahl an Kindern und Jugendlichen, die an Schilddrüsenkrebs erkranken, will der Staat nicht als Folge der Katastrophe anerkennen 623 POSTINGS Martin Fritz aus Tokio und
Fukushima: Kranke Kinder stören Japans "Wiederaufbau" Die wachsende Zahl an Kindern und Jugendlichen, die an Schilddrüsenkrebs erkranken, will der Staat nicht als Folge der Katastrophe anerkennen
Fukushima 11. März 2017,Stark wirkt sie, diese junge Japanerin. Selbstsicher. Aber als sie über ihren Krebs spricht, werden die Augen feucht, die Stimme beginnt zu zittern. "Mein Arzt meint, dass die radioaktive Strahlung nicht die Ursache dafür ist. Aber was soll es sonst gewesen sein?", sagt die heute 22-Jährige aus Koriyama in der Präfektur Fukushima dem US-Dokumentarfilmer Ian Thomas Ash. Als Erste von inzwischen 185 Jugendlichen und Kindern in Fukushima, die bei der Atomkatastrophe am 11. März 2011 unter 18 Jahre alt waren und danach an Schilddrüsenkrebs erkrankten, hat sie vor einem Jahr öffentlich vor einer Kamera über ihr Leiden gesprochen.
Aber ihr Mut wurde nicht belohnt. Die japanischen Medien ignorierten ihren Auftritt in der Doku A2-B-C, kein anderer Krebspatient aus Fukushima folgte ihrem Beispiel. Lediglich zwei Väter meldeten sich einmal in einer Videoschaltung zu Wort, jedoch mit verzerrter Stimme und ohne ihr Gesicht zu zeigen. Sie berichteten von dem Druck, unter dem die Angehörigen stünden. "Ich kann niemandem erzählen, dass mein Kind an Krebs erkrankt ist", klagte einer von ihnen.
Denn Gesellschaft und Politik in Japan wollen die Katastrophe, die sich vor nunmehr sechs Jahren ereignet hat, hinter sich lassen und sich lieber auf den Wiederaufbau konzentrieren. documentingian Trailer von A2-B-C. Bei der Vergabe der Olympischen Spiele 2020 an Tokio vor dreieinhalb Jahren versicherte Regierungschef Shinzo Abe der Welt, das AKW Fukushima sei unter Kontrolle. Seitdem laufen die Stilllegung der Reaktoren (siehe Lokalaugenschein unten) und die Rückbesiedlung der Evakuierungszone auf Hochtouren. Japans Opposition schweigt Auch die Opposition im Land fasst das Thema nicht an, weil sie damals selbst regierte und schwere Fehler machte: Zum Beispiel versäumte sie das Verteilen von Jodtabletten und schickte AKW-Anwohner versehentlich in radioaktive Wolken hinein. So kümmert sich heute niemand um die Krebskranken in Fukushima. "Die Patienten gelten als Störer des Wiederaufbaus und sind in der Gesellschaft isoliert", sagt Hisako Sakiyama, die 77-jährige Gründerin des Hilfsfonds 3/11 Fund for Children with Thyroid Cancer, zum STANDARD. foto: ap/yuri kageyama Hisako Sakiyama erhebt schwere Vorwürfe gegen die japanische Regierung. Doch die gesundheitliche Lage in Fukushima ähnelt immer mehr jener in Tschernobyl. Die Zahl der Schilddrüsenkrebsfälle bei Kindern und Jugendlichen sei 20- bis 50-mal höher als in nicht verstrahlten Gebieten in Japan, berichtete der Epidemiologe Toshihide Tsuda (siehe Wissen unten). Sein Team wertete die Daten der 2011 begonnenen Ultraschall-Untersuchungen der Schilddrüsen der meisten Kinder und Jugendlichen in Fukushima aus. Eine zweite Parallele ist die im Laufe der Zeit steigende Zahl von Krebsfällen, eine dritte ihre anomale Verteilung: Ähnlich wie in Tschernobyl ist fast die Hälfte der Patienten männlich, während Schilddrüsenkrebs normalerweise eine Frauenkrankheit ist.
Doch die japanische Regierung leugnet weiter jeden Zusammenhang zwischen Strahlung und Krebs: Die Menge an ausgetretenem radioaktivem Material in Fukushima sei deutlich kleiner als in Tschernobyl gewesen und die Umgebung schneller evakuiert worden. Die Gesundheitsuntersuchungen bleiben auf Fukushima beschränkt, obwohl auch andere Gebiete verstrahlt wurden. Ein Papier der Weltgesundheitsorganisation (WHO) mit der Warnung vor leicht steigenden Schilddrüsen-, Blut- und Brustkrebszahlen in höher verstrahlten Fukushima-Bezirken wurde nie ins Japanische übersetzt. Stattdessen berufen sich die Beamten auf eine Prognose des UN-Komitees zu den Effekten atomarer Strahlung (UNSCEAR), wonach es nicht mehr Krebsfälle geben werde. foto: reuters / damir sagolj In Iwaki, einer Stadt rund 60 Kilometer südlich des AKWs Fukushima, untersucht ein Arzt ein vierjähriges Mädchen auf Schilddrüsenkrebs.
"Regierung will mit Atomkraft weitermachen" Die unerwartet hohe Zahl von inzwischen 185 Fällen von Schilddrüsenkrebs erklärten die Behörden als eine Folge der Massenuntersuchung. Dabei seien Tumoren entdeckt worden, die ohne Screening nie gefunden worden wären. "Es ist schwer vorstellbar, dass die Krebsfälle auf die radioaktive Strahlung zurückzuführen sind", heißt es im Zwischenbericht des Fukushima-Aufsichtskomitees von Ende März 2016. Für diese frühe Bewertung hat Hilfsfonds-Gründerin Sakiyama, selbst eine Zellbiologin, nur eine Erklärung: "Die Regierung will keine Verantwortung für den AKW-Unfall übernehmen und mit der Atomkraft weitermachen." An echter Aufklärung scheinen die Behörden kaum interessiert zu sein. Das Screening der Schilddrüse ist freiwillig. Die Beteiligung sank von 82 Prozent in der ersten Runde auf 45 Prozent beim zweiten Durchgang. Die Untersuchungen finden lediglich alle zwei Jahre statt. In Tschernobyl geschieht dies zweimal jährlich. Experte verlässt Komitee Die Operationen dürfen nur an bestimmten Krankenhäusern stattfinden, sonst werden die Kosten nicht übernommen. So behält das Aufsichtskomitee die Kontrolle über alle Krebsdaten. Doch dort sitzen keine unabhängigen Fachleute mehr. Der einzige Schilddrüsenexperte, Kazuo Shimizu, zog sich im Oktober 2016 zurück und distanzierte sich von der Komitee-Meinung, die Strahlung sei für den Krebs nicht verantwortlich. Die hohe Rate widerspreche seiner klinischen Erfahrung, sagte der Arzt, der seit vielen Jahren Schilddrüsenkrebspatienten in Tschernobyl behandelt. foto: ap/wally santana 24. März 2011:
Ein Mädchen aus der Präfektur Fukushima wird auf Verstrahlung überprüft. Der japanische Staat hat sich immer wieder kaltherzig zu seinen Bürgern verhalten, um sich aus der Verantwortung zu stehlen. Das erlebten bereits Atombombenopfer, Minamata-Geschädigte (Quecksilbervergiftete), zwangssterilisierte Leprakranke und die Angehörigen von Blutern, die an HIV-verseuchten Arzneien starben. Meistens dauerte es viele Jahre, bis die Zahl der Opfer so groß wurde, dass sie sich selbst organisieren und ihren Protest hörbar formulieren konnten. Dieser Prozess hat in Fukushima gerade erst begonnen. Noch ist die Zahl der Betroffenen relativ überschaubar. Jedoch rechnet Epidemiologe Tsuda für die nächsten Jahre mit mehr Krebsfällen. Das Mitgefühl nimmt schon jetzt zu: Der Hilfsfonds für die Krebskinder wird von mehreren Prominenten, darunter der konservative Expremier Junichiro Koizumi, unterstützt und sammelte in wenigen Monaten umgerechnet weit über 200.000 Euro. 66 Familien wurde bereits mit jeweils bis zu 1700 Euro geholfen. Zudem hinterfragen erste Betroffene das Argument der Behörden, viele Tumoren wären früher weder gefunden noch behandelt worden. Empörte Eltern wandten sich in einem offenen Brief an den Vorsitzenden des Aufsichtskomitees: "Wie viele der Operationen waren unnötig? Gab es Übertherapien und Behandlungsirrtümer?" Ihre Fragen wurden nie beantwortet. Neues Fachgremium kommt Die Erklärungsnöte der Behörden sind inzwischen so groß geworden, dass sie ihre Strategie geändert haben: Das Aufsichtskomitee beschloss im Februar, ein neues Fachgremium einzusetzen. Es soll wissenschaftlich "neutral" ein für alle Mal feststellen, dass die Krebsfälle nicht durch radioaktive Strahlung verursacht wurden. Dann hätte man einen Grund, die Zahl der Untersuchungen zu verringern. Und dadurch, so der Plan dahinter, würden auch die Krebsdiagnosen zurückgehen, und die Debatte hätte sich erledigt. Möglicherweise kommt dieser Vorstoß zu spät. Experten wie Shimizu und Tsuda fordern die Fortsetzung der Datensammlung. Und in den Regionen Tochigi und Chiba nördlich und südlich von Fukushima sind die Stimmen von besorgten Müttern so laut geworden, dass nun auch dort die Schilddrüsen von Kindern und Jugendlichen kostenlos untersucht werden. WISSEN: Krebsforscher bei Fukushima-Opfern uneinig
Eine einzelne Krebserkrankung auf radioaktive Strahlung zurückzuführen ist wissenschaftlich unmöglich. Seit dem Atomunfall von Tschernobyl weiß man aber, dass sich radioaktives Jod-131 in den Schilddrüsen vor allem von Kindern und Teenagern sammelt und dort Krebs verursachen kann. Das Jod-Isotop zerfällt mit einer kurzen Halbwertszeit von acht Tagen und kann dabei die umliegenden Zellen beschädigen. Beim AKW-Unglück im März 2011 wurden laut Betreiber Tepco 500.000 Terabecquerel Jod-131 in die Luft geschleudert – etwa halb so viel wie in Tschernobyl. Daher werden in Fukushima die Schilddrüsen von Kindern und Jugendlichen, die damals jünger als 18 Jahre waren, vorsorglich untersucht – zunächst alle zwei Jahre, ab ihrem 20. Lebensjahr alle fünf Jahre. - derstandard.at/2000053950747/Fukushima-Kranke-Kinder-stoeren-Japans-Wiederaufbau