Wenn die Eltern plötzlich alt sind
Es ist die große gesellschaftliche Herausforderung einer ganzen Generation: Wie gelingt es, die letzte gemeinsame Lebensphase von Eltern und ihren erwachsenen Kindern zu meistern? Wie schafft man es für seine hilfsbedürftigen, alten Eltern zu sorgen ohne sich dabei völlig zu überfordern? Die Generation der 40 bis 60-jährigen steht vor diesem Problem, das es zuvor in dieser Form noch nicht gegeben hat. Wie schauen Kinder heute auf ihre altgewordenen Eltern? Viele stoßen dabei an ihre Grenzen, auch weil sie berufstätig sind. Es entstehen Gefühle wie schlechtes Gewissen, andauernde Überforderung und Selbstaufgabe.
Unsere Magazinsendung „Menschen in der Zeit" vom 12. Februar 2017 stellt die Familientherapeutin Birgit Lambers mit dem Themenbereich „Wenn die Eltern plötzlich alt sind" vor. Aldo Parmeggiani sprach mit Frau Lambers
Birgit Lambers ist Sozialpädagogin und ausgebildet in Familientherapie. Ihre Vorträge und Seminare sowie ihr Buch mit dem Titel „Wenn die Eltern plötzlich alt sind“ stoßen auf breites Interesse. Die Menschen leben heute bekanntlich länger als in früheren Zeiten, aber auch sie erreichen schließlich ein Alter, in dem sie ihre Selbständigkeit aufgeben und Hilfe beanspruchen müssen. Viele erwarten diese Hilfe von ihren Kindern. Viele verbringen ihre letzte Lebensphase im Seniorenheim. Was ist besser, Frau Lambers?
Lambers: „Das ist eine Frage, die sich auf keinen Fall eindeutig beantworten lässt. Es hängt immer von den individuellen Umständen ab. Ich habe in meinen Seminaren sehr viele Geschichten von Betroffenen gehört. Ich kann Ihnen von vielen Fällen berichten, wo alte Menschen zwar in ihren eigenen vier Wänden bleiben, aber dort völlig vereinsamen und wirklich aufblühen, wenn sie in eine andere Wohnform kommen, wo ihnen Anderes geboten wird. Und es gibt andere Beispiele von Fällen, wo alte Menschen sich entwurzelt gefühlt haben, weil sie mit über 80 nochmal umsatteln mussten.
Vom Lebensalter her ist es so, dass die am schnellsten wachsende Bevölkerungsgruppe die der über 100-Jährigen ist. Es wird also die Konstellation zunehmen, dass sich eine 80-jährige Tochter um den 105-jährigen Vater kümmert. Das verdeutlicht das Dilemma, in dem fürsorgende Kinder stecken. Die Menschen werden alt, das Alter verschiebt sich nach hinten und die „Kümmerphase“ ist sehr viel länger als bei den Generationen vor uns. Man redet im Moment von acht Jahren, wo alte Menschen pflegebedürftig sind. Das ist eine Durchschnittszahl. Das heißt, wir reden hier oft über zweistellige Kümmerzeiten. Und das können Töchter und Söhne in diesen Dimensionen kaum stemmen."
* In Europa fällt doch auf, dass sich sehr viele erwachsene Kinder aufopferungsvoll um das Wohl der alten Eltern bemühen. Aber nicht immer ist dies möglich. Entweder lässt das ihre Arbeitszeit nicht zu, oder sie wohnen von ihren Eltern weit entfernt. Manchmal haben sie selbst ein Alter erreicht, das ihnen eine ausreichende Zuwendung an ihre Eltern nicht mehr erlaubt. In Ländern wie China, lese ich, werden erwachsene Kinder per Gesetz zur Elternfürsorge verpflichtet. Wo sehen Sie da Vorteile, wo die Nachteile?
Lambers: „Bei China sehe ich gar keine Vorteile, weil letztendlich gibt es 24 Kindespflichten, die Kinder wirklich knebeln und auf eine bestimmte Art und Weise ihnen vorschreiben, wie sie sich um ihre Eltern zu kümmern haben, und der Staat übernimmt dort gar keine Verantwortung. Das ist in Deutschland anders, und je weiter wir nach Norden kommen, desto mehr kümmert sich der Staat, und es ist eben auch eine staatliche Aufgabe: genauso wie es Kindergärten gibt, ist dort auch für die alten Menschen gesorgt. Das hat auch eine Menge Vorteile, weil Kinder, die dann Kontakt zu ihren alten Eltern haben, die haben Kontakt, um mit ihnen Kaffee zu trinken und um eine schöne Zeit zu verleben, aber nicht, um Anträge auszufüllen, um den Haushalt zu versorgen und Dinge zu tun, die sie eigentlich eher belasten.
Und in nordischen Ländern, wo der Staat so selbstverständlich dieses Thema sich auf die Fahne geschrieben hat, gibt es viele der Probleme, die wir hier in Deutschland haben, aber viele, die auch etwa in Italien da sind, haben sie in dieser Form nicht. Deshalb ist es meines Erachtens nötig, dass der Staat mehr an Unterstützung anbietet, weil sich viele Kinder damit wirklich alleine gelassen fühlen. Wenn ich ein Beispiel nennen darf: Wenn jemand einen ambulanten Pflegedienst braucht, der den Eltern morgens nur Tabletten reicht, dann hat der ein echtes Problem. Oder wenn er im Schichtdienst ist und jemanden braucht, der nur nachts einmal da ist, dann findet er kaum jemanden. Das sind Lücken, die Angehörige gar nicht schließen können."
*Frau Lambers, hat das vierte Gebot, du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren, heute im 21. Jahrhundert an Gültigkeit und Aktualität verloren? Die Pflege hilfsbedürftiger Familienangehöriger war früher, wo es Hilfe von außen nicht gab, eine Pflicht, die selbstverständlich übernommen wurde. Heute liegt die Schwierigkeit der Pflege erwachsener Kinder für ihre alten Eltern eher darin, das eigene Leben in Einklang zu bringen. Sehe ich das richtig?
Lambers: „Ja genau, das ist die Herausforderung der heutigen Generation. Also ich habe das ja eben schon gesagt, ich finde nicht, dass wir einen Werteverfall zu beklagen haben. Kinder kümmern sich um ihre alten Eltern und sie halten das vierte Gebot sehr hoch. Und sie halten es so hoch, dass sie sogar zahlreich daran zerbrechen, weil eben wie gesagt unsere Lebensbedingungen nicht mehr so zur intensiven Elternpflege taugen, aber das Kümmern, das füreinander Dasein, das ist überhaupt nicht zu beklagen. In Deutschland werden 70 Prozent der alten Menschen ganz ohne weitere Hilfe nur von den Angehörigen zu Hause versorgt - trotz Berufstätigkeit und trotz weiter Entfernungen." *Eltern, Frau Lambers, geben in Vorleistungen und kümmern sich jahrzehntelang um ihre Kinder, um ihre Erziehung, um ihre Bildung. Im Alter verkehren sich ja dann die Rollen, dann sind die Kinder die Gebenden und die Eltern die Nehmenden. Nun gibt es ja auch noch eine andere Seite. Der alte Mensch ist oft fordernd, rücksichtslos vielleicht sogar und ichbezogen. Wie weit darf hier der Bogen gespannt werden, ohne dass die Geduld vonseiten der erwachsenen Kinder für ihre Eltern zu sehr in Anspruch genommen wird?
Lambers: „Ja, das Schwierige ist, dass die Erfahrung zeigt, dass meistens alte Eltern ein wenig verbohrt werden, zänkisch oder altersstarrsinnig – wobei es den Altersstarrsinn in dieser Form gar nicht gibt. Sie werden einsam und kreisen zu viel um sich selbst. Dann bekommen das eigene Leben und die eigenen Wehwehchen eine überdimensionierte Bedeutung. Alte Menschen, die gut im Leben stehen, die gut im Kontakt sind und auch noch sinnvolle Beschäftigungen haben, zeigen diese Verhaltensweisen seltener. Und wenn Eltern sich auf diese Art und Weise respektlos ihren Kindern gegenüber verhalten, dann hilft es nur, dass Kinder deutlich, bestimmt, wertschätzend eine Grenze ziehen und deutlich sagen: „Ich kümmere mich gerne, aber ich möchte nicht, dass wir uns in diesem Ton begegnen. Hier ist meine Grenze.“ Das ist wichtig, dass alte Menschen das auch wissen, und nach meiner Erfahrung merken sie es oft selber auch nicht. Sie brauchen wirklich von außen jemanden, der eine Grenze setzt. "
* Ein großes Problem besteht in der gesellschaftlichen Bewertung des Wortes „Heim“ , Altersheim oder Seniorenheim . Es wird ja immer noch manchmal zu Recht, manchmal vielleicht zu Unrecht, als Verletzung der familiären Verpflichtungen angesehen, die Eltern außerhalb der Familie unterzubringen. Die Eltern ins Heim zu bringen, kommt nicht in Frage, hört man oft. Die Senioreneinrichtung wird als Abschiebegleis bewertet. Viele Kinder berichten, dass die Entscheidung für eine Senioreneinrichtung für sie die größte Belastung darstelle und mit einem enormen schlechten Gewissen einherging. Stimmt das?
Lambers: „Ja. Das liegt natürlich an der Historie der Altenheime . Es ist noch gar nicht lange her, dass es sich dabei um Anstalten handelte, die auch genauso hießen, und die Bewohner hießen Insassen. Das waren Aufnahmeeinrichtungen für Kranke, Bedürftige, gesellschaftliche Verstoßene und Geächtete. Und für unsere Eltern – da muss man sich auch mal klarmachen, wie die aufgewachsen sind – hat der Generationenvertrag immer funktioniert. In ihrem Denken kam eine andere Wohnform im Alter gar nicht vor. Von daher kann das Gefühl entstehen: Ich muss in ein Heim, aber meine Nachbarin und meine Freundinnen alle nicht.
Ein Gefühl von Diskriminierung. Und tatsächlich ist es eben auch nicht die Norm: Wenn 70 Prozent der alten Menschen zu Hause versorgt wird, dann ist der alte Mensch in einer Einrichtung nicht die Norm, sondern die Abweichung. Erwachsene Kinder haben dasselbe Gefühl: Ich schiebe meine Eltern ab. Und wie ich eben schon sagte, es gibt zahllose Beispiele von alten Menschen, die in einer Senioreneinrichtung wirklich aufgeblüht sind, weil sie Kontakt hatten, weil sie Beschäftigung hatten, weil sie Ansprache hatten. Meines Erachtens wird es in Zukunft für die nächste und vor allen Dingen für die übernächste Generation die Norm sein. Wir werden im Alter alle noch einmal irgendwo anders leben, weil unsere Kinder das gar nicht leisten können, uns zu versorgen. Und dann ist das auch nicht mehr mit so einem Stigma besetzt. Darauf hoffe ich." *Kommen wir zu einem weiteren vielleicht letzten Aspekt, weil uns die Zeit nicht mehr andere Aspekte zulässt. Was ist, wenn ein Teil oder beide Eltern an einer Demenzkrankheit leiden? Für Kinder ist so eine Krankheit der Eltern ja schwer auszuhalten. Sie erleben zwar noch deren leibliche Hülle, aber kaum mehr deren frühere Charaktereigenschaften. Es ist, als ob sie schon zu Lebzeiten gestorben seien. Und damit verändern sich doch auch die Gefühle der begleitenden Kinder. Das Abschiednehmen von Vater oder Mutter findet schon zu deren Lebzeiten statt. Wie geht man mit diesem Aspekt um?
Lambers: „Wer demenzkranke Eltern hat, ich stelle das in meinen Seminaren fest, geht oft sehr leichtfertig mit diesem Urteil oder dieser Diagnose um. Zunächst muss man fachmännisch abklären lassen: Handelt es sich wirklich um eine Demenz? Und wenn es sich um eine Demenz handelt, dann müssen Kinder auf jeden Fall neue Gesprächsformen erlernen, denn sie gehen dann auf die gleiche Art und Weise mit ihren Eltern um, wie sie das taten, als die noch gesund waren - und sind natürlich ungeduldig, weil dort nicht die bekannte Reaktion kommt. Sie entlasten sich selber, wenn sie lernen, Gespräche auf eine ganz andere Art und mit mehr Verständnis für demenzkranke Eltern zu führen. Trotz alledem sind demenzkranke Eltern eine der größten Herausforderungen: Die Helden meiner Kinderzeit zu sehen, wie sie sich völlig verändern, und vielleicht nichts mehr mit der Person zu tun haben, die ich einmal geliebt habe." *Frau Lambers, wir danken für dieses Gespräch. (rv 12.02.2017 ap) http://de.radiovaticana.va/news/2017/02/...lt_sind/1289138
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