Amoris laetitia und der „neue“ Priester 27. November 2017 1
(Rom) Der päpstliche Haus- und Hofvatikanist Andrea Tornielli setzt auf der von ihm koordinierten Nachrichtenplattform Vatican Insider die Kampagne zur Verteidigung des umstrittenen nachsynodalen Schreibens Amoris laetitia in der von Papst Franziskus geförderten Interpretation fort. Einer Interpretation, in der mehr als 250 namhafte Theologen und Philosophen sieben Häresien ausfindig gemacht und mit ihrer Correctio filialis den Papst darauf aufmerksam gemacht haben. Ohne Reaktion.
Tornielli veröffentlichte am vergangenen Samstag ein Interview mit Kardinal Beniamino Stella, dem Präfekten der Kleruskongregation. Die Kleruskongregation war das erste vatikanische Ministerium, das von Papst Franziskus 2013 umbesetzt wurde.
Laut Kardinal Stella helfe Amoris laetitia den Priestern bei der „Unterscheidung“, worüber sich der Kardinal wortreich und polemisch ausläßt. Massiv kritisiert er indirekt, aber massiv die bisherige Priesterausbildung, der er Starrheit und Normenhörigkeit vorwirft und bezeichnet die Dubia (Zweifel) an Amoris laetitia der Kardinäle Brandmüller, Burke, Caffarra und Meisner abschätzig als „sogenannte“ Dubia.
Laut Kardinal Stella bedurfte es des nachsynodalen Schreibens Amoris laetitia, damit die Kirche „begreift“, daß es „komplexe Lebenswirklichkeiten“ gebe, die von den in den vergangenen zweitausend Jahren gelehrten Glaubensnormen nicht erfaßt würden, bzw. denen das bisher von der Kirche gelehrte nicht gerecht werde. Wer das nicht verstehe, sei rückwärtsgewandt und „starr“. Kardinal Stella plädiert für eine neue Priesterausbildung im Sinne von Amoris laetitia. Wird zur Verteidigung und Rechtfertigung von Amoris laetitia nachträglich diesem Dokument alles untergeordnet, auch die Priesterausbildung, oder steht Amoris laetitia für ein weit umfassenderes Denken, dessen erste Speerspitze es ist? Stellas Argumentation erinnert verblüffend an progressistische Parolen, wie sie im deutschen Sprachraums in Abwandlungen seit Jahrzehnten zu hören sind. Diese scheinen inzwischen im Vatikan angekommen zu sein.
Lebenswirklichkeit versus „Ideologie und Legalismus“ Tornielli: Könnten Sie erklären, was es bedeutet, zu „unterscheiden“, wie es Amoris laetitia verlangt?
Kardinal Stella: Um ein von Papst Franziskus gebrauchtes Bild aufzugreifen, würde ich sagen, daß es bedeutet, das Leben und die Wirklichkeit nicht in schwarz-weiß einzusperren. Dieser starre Ansatz, der von Ideologie und Legalismus genährt wird, ist unzureichend, um die Existenz wirklich in ihrer Komplexität zu „lesen“. Sicher, es ist einfacher, sich in einen Käfig einzuschließen und auf diese Weise vor Risiken und Gefahren geschützt zu sein, die wir ringsum sehen. Wenn aber allein die Angst obsiegt, erstarren wir. Und so sehr es uns manchmal nützen kann, bedeutet es, immer im sicheren Käfig zu bleiben, am Ende nicht mehr zu leben. Es ist verständlich, daß einige es vermeiden wollen, die Anstrengung auf sich zu nehmen, die Dinge in ihrer Tiefe zu suchen und zu interpretieren, indem sie sich mit einfachen und bequemen Lösungen zufriedengeben. Sowohl im täglichen Leben wie im Glauben stellen wir fest, daß es viele „Grauzonen“ gibt, Situationen, die nicht streng in schwarz oder weiß eingeteilt werden können. Bezüglich Amoris laetitia und den sogenannten Dubia hebt Kardinal Gerhard Ludwig Müller im Vorwort zum jüngsten Buch des Philosophen Rocco Buttiglione diese Spannung zwischen der Objektivität der Norm, die grundlegend bleibt und bezüglich der Wahrheit der Ehe erleuchtet, und „den existentiellen Situationen hervor, die sehr verschieden und komplex sind“, und die in bestimmten Fällen die Schuld mildern oder zumindest eine ehrliche Gottsuche erkennen lassen können. Um sowohl eine leichtfertige Anpassung an den Geist des Relativismus als auch eine kalte Anwendung der Vorschriften zu vermeiden, bedarf es einer besonderen Fähigkeit der geistlichen Unterscheidung. Ich denke an das Konzil von Jerusalem, wie es in der Apostelgeschichte berichtet wird: Um eine praktische Frage im Leben der Kirche zu lösen, berufen sich die Apostel nicht gleich auf das Gesetz oder die Tradition, sondern öffnen die Augen und das Herz für die gelebte Gnade des Heiligen Geistes. Es ist ein bißchen so, wie es Kardinal Canestri sagte, ein vor kurzem verstorbener Hirte: Wichtig ist, im Fluß der Kirche zu stehen. Wenn jemand etwas weiter rechts oder etwas weiter links steht, ist das nur eine zulässige Variation, die nicht mit Zwang eingeschränkt werden soll. Ich denke, daß die Unterscheidung die Kunst des Sehens mit den Augen des Glaubens ist, wie der Heilige Geist häufig auch in komplexen Lebenssituationen oder Situationen am Werk ist, die offenbar fern von Gott sind, um alle menschlichen, spirituellen und pastoralen Möglichkeiten zu erfassen, indem man immer „im Fluß“ bleibt.
Die „Gefahren“ der bisherigen Priesterausbildung Amoris laetitia Amoris laetitia Tornielli: Amoris laetitia lädt den Priestern eine beachtliche Last an Verantwortung auf. Sind sie dafür ausgebildet und vorbereitet?
Kardinal Stella: Wir haben eine große Herausforderung vor uns, die vor allem die Priesterausbildung betrifft. Mich hat im Gespräch von Papst Franziskus mit Pater Antonio Spadaro, das im Buch „Stellt nun eure Fragen“ (orig. „Adesso fate le vostre domane“) veröffentlicht wurde, sehr die Anspielung auf die Lehrpläne zur Priesterausbildung bewegt, die riskieren, mit zu klaren Ideen und zu definierten Normen abseits der konkreten Lebenswirklichkeiten zu erziehen. Wir brauchen es hingegen, daß der Priester ein „Mann der Unterscheidung“ ist. Dazu ist es aber notwendig, auf besondere Weise auf die menschliche Formung der Priester abzuzielen. Mit der neuen Ratio Fundamentalis wurde versucht, eine aufgesetzte und zu sehr mit einem, ich würde sagen, übertriebenen und vereinnahmenden Akzent auf der Ebene der akademischen Studien oder einer abstrakten Spiritualität organisierte Ausbildung zu entmutigen, als wäre sie fast außerhalb der Person. Es braucht – wenn ich das so sagen darf – ganz menschliche Priester, also innerlich entschlossene Personen, die ihre eigenen Schatten erkennen und an den eigenen Konflikten arbeiten konnten, die sich helfen ließen, die eigene Zerbrechlichkeit in einem Prozeß der vollständigen Reifung zu integrieren, und die affektiv wie psychisch stabil und gelassen sind.
Der „ganz menschliche“ Priester des 21. Jahrhunderts Tornielli: Was geschieht, wenn dieses Gleichgewicht fehlt?
Kardinal Stella: Wenn diese ausgeglichene Grundhumanität fehlt, riskiert der Priester, Positionen der Starrheit oder der Distanz einzunehmen, auch aus Furcht, die täglichen Herausforderungen seines Dienstes nicht handhaben zu können. Unsicherheit verknüpft sich immer mit einer gewissen Inflexibilität. Ein vollkommen menschlicher Priester hingegen geht inmitten der Leute, er läßt sich von ihren Wunden berühren, ermutigt ihre Freuden und lebt eine Herzlichkeit in den Beziehungen. Indem er die Brüder begleitet, wird er immer weniger auf sich selbst zentriert sein, sondern sich vielmehr darum kümmern, allen die Zärtlichkeit Gottes und den Duft Seiner Gnaden zukommen zu lassen. Ein solcher Priester schaut nicht von oben von der Kanzel herab auf die anderen, sondern befindet sich, sich vollkommen bewußt, als erster ein Sünder zu sein, dem vergeben wurde, im selben Boot mit den Brüdern und macht mit ihnen die Überfahrt der Bekehrung zu Christus. Mit Mitleid und väterlicher Nähe wird er die Geschichte von jedem anzunehmen wissen als ein Mann, der genau weiß, daß jede Geschichte und jede Person anders ist, und daß es dafür keine bereits fertiggestellten Handbücher oder Nachschlagewerke gibt. Er ist ein Mann, der den Glauben und das christliche Leben anzubieten weiß, das mehr aus Beziehungen besteht als aus abstrakten Regeln.
Das vollständige Originalinterview auf Vatican Insider.
Text: Giuseppe Nardi Bild: MiL/Vatican Insider https://www.katholisches.info/2017/11/am...-neue-priester/ + http://www.lastampa.it/2017/11/25/vatica...IFP/pagina.html
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