Chaos an deutschen Schulen Eine Lehrerin schlägt Alarm: "Ich komme mit den Kindern nicht mehr zum Lernen"
Schule, Lehrer, Schüler, Grundschule, Inklusion, Integration, Misstände, Bildungssystem dpa/Franziska Kraufmann"Mich wundert der hohe Krankenstand unter Lehrern bei all diesem Druck überhaupt nicht", sagt eine Lehrerin im Gespräch mit FOCUS Online.
Sonntag, 25.03.2018, 19:08 Inklusion, Migration und immer öfter verhaltensauffällige Kinder. Dazu viel zu große Klassen und bürokratischer Papierkrieg. Vor allem Grundschullehrer ächzen unter der Last ihrer Aufgaben und fühlen sich von Staat und Gesellschaft alleingelassen. Eine von ihnen berichtet aus dem Klassenzimmer.
Traumberuf Lehrer – denn morgens hat er recht und nachmittags frei! Ein Klischee, das immer wieder gerne bedient wird. Doch die Realität sieht meist ganz anders aus. Vor allem an Grundschulen unterrichten viel zu wenige Lehrer in viel zu großen Klassen.
Gleichzeitig müssen sie mit steigenden Anforderungen wie der Inklusion von Behinderten, der Integration von oft traumatisierten Flüchtlingskindern und der steigenden Zahl verhaltensauffälliger Kinder fertigwerden.
„Wie viel Zusatzarbeit sollen Lehrerinnen und Lehrer angesichts der eh schon enorm gestiegenen Anforderungen denn noch leisten?“, fragt sich deshalb Simone Fleischmann, Präsidentin des Bayerischen Lehrerinnen- und Lehrerverbands (BLLV), in einem offenen Brief an die Mitglieder ihrer Organisation.
„Irgendwie wird’s schon noch gehen – das ist das Motto bei vielen Reformen und neuen Aufgaben“, schreibt sie weiter. Damit spricht sie einer ihrer Kolleginnen aus tiefster Seele. FOCUS Online hat sie aus ihrem Schulalltag erzählt. Um wirklich offen sprechen zu können und um die Persönlichkeitsrechte ihrer Schüler und deren Eltern zu schützen, möchte sie allerdings anonym bleiben.
Die Grundschullehrerin berichtet:
Ich bin Anfang 40, seit mehr als 17 Jahren Grundschullehrerin in Bayern, davon zwei Jahre im Referendariat und zwei Jahre in Elternzeit. Ich habe zwei noch relativ kleine Kinder. Deswegen arbeite ich derzeit in Teilzeit mit 20 Wochenstunden – übrigens zählen zu diesen 20 Stunden nur die, in denen ich vor der Klasse stehe, nicht die, in denen ich den Unterricht vorbereite und korrigiere. Viele vergessen gerne, dass Lehrer am Nachmittag keinesfalls frei haben.
Ich unterrichte eine Klasse mit 26 Kindern. Wobei von „unterrichten“ kaum die Rede sein kann. Ich fühle mich derzeit mehr als Sozialarbeiterin denn als Lehrerin. Denn meine Hauptenergie fließt weniger ins Unterrichten. Ich brauche sie meist dafür, die Kinder so zu erziehen, dass ich sie überhaupt unterrichten kann.
Von den 26 Kindern ist nämlich etwa die Hälfte „verhaltensoriginell“, wie das euphemistisch und politisch korrekt mittlerweile gerne genannt wird – oder zeigt in anderer Form psychische Auffälligkeiten oder problematisches Verhalten. Dazu zähle ich nicht einmal Lernschwierigkeiten oder Minderbegabungen. Meinen Kollegen und mir fällt vielmehr immer öfter auf, dass viele Kinder in ihrem sozialen und psychischen Verhalten völlig unterentwickelt in die Schulzeit starten.
Viele sind in der Trotzphase eines Kleinkindes stehengeblieben Sie wollen ihre Bedürfnisse sofort erfüllt sehen, haben kaum Geduld und eine geringe Frustrationstoleranz. Sie nehmen nur sich selbst wahr und merken gar nicht, wenn sie andere stören, anrempeln, zutexten. Sie sind unselbstständig, können nicht auf ihre Sachen aufpassen, verlegen oder verlieren sie ständig.
Viele Kinder sind nicht einmal in der Lage, ihr Heft herauszuholen, wenn ich sie dazu auffordere. Sie können sich kaum konzentrieren, nicht einmal zuhören, geschweige denn, das Gehörte umsetzen. Es ist also sehr schwer, sie überhaupt zu erreichen und ihnen etwas beizubringen. Das alles hat übrigens nicht zwangsläufig etwas mit Intelligenz zu tun - ich habe viele hochbegabte Kinder, die im Schulalltag dennoch scheitern.
Etliche Schüler sind auch ständig müde
Als ein Junge im Unterricht eingeschlafen ist, hat er mir erzählt, dass seine Eltern im Schichtdienst arbeiten. In der Nacht zuvor waren beide nicht zuhause – er konnte nicht einschlafen, „obwohl“ er Fernsehen geschaut und mit Smartphone und Computer gespielt hat, wie er mir treuherzig erzählt hat.
In vielen Familien sind beide Eltern berufstätig, der Familienalltag dadurch unbeständig bis chaotisch. Den Kindern fehlt es an festen Strukturen und Bezugspersonen, die ihnen Sicherheit geben, damit sie zur Ruhe kommen und sich erholen können.
Ich habe wirklich Verständnis dafür, dass in vielen Familien das Geld nur reicht, wenn beide Elternteile arbeiten gehen. Die Lösung kann aber doch nicht sein, seine Kinder entweder ständig mit Medien ruhigzustellen oder in den Hort wegzuorganisieren – zumal auch Eltern, die gar nicht arbeiten, ihre Kinder ständig abschieben.
Als ich mal im Sommer in der Klasse gefragt habe, wer bei Hitzefrei und vorzeitigem Schulschluss problemlos nach Hause gehen könnte, haben sich sechs meiner acht Ganztagesschüler gemeldet.
Ich gebe den Kindern mein eigenes Essen ab
Das sind übrigens oft auch die Kinder, deren Eltern zwar den ganzen Tag zuhause sind, die aber trotzdem meist ohne Frühstück, ohne Pausenbrot, sogar ohne etwas zu trinken in die Schule geschickt werden. Oft gebe ich dann mein eigenes Brot ab, außerdem habe ich auch immer etliche Flaschen Wasser für alle parat.
Aus den Schülerakten weiß ich, dass diese Kinder meist aus sozial schwachen Familien kommen, in denen das Geld vorne und hinten nicht reicht. Vielen dieser Kinder werden aber gleichzeitig oft drei Euro für den Schulbäcker in die Hand gedrückt, statt ihnen ein (zudem gesundes) Pausenbrot selbst zu schmieren. Wenn ich das sehe, kriege ich eine saumäßige Wut! Ich stehe ja auch um halb 6 auf, um meinen beiden Kindern Brote zu schmieren, viele andere Eltern auch, warum kriegen andere das nicht hin?
Kinder, die von ihren Eltern vernachlässigt werden, den Unterricht durch unangemessenes Verhalten stören oder anderweitig als „schwierig“ gelten, gibt es natürlich schon immer. Früher kamen diese Kinder aber meist aus sozial schwachen Milieus. Heute scheinen psychische Auffälligkeiten auch in gut situierten Familien angekommen zu sein.
Wenn ich so darüber nachdenke, habe ich wirklich kaum Kinder, die nicht Probleme mit in die Schule bringen, die durch Elternhaus und Erziehung entstanden sind. Ein Junge kommt beispielsweise aus gut situiertem Hause, hat sehr bemühte Eltern, ist dadurch aber auch derart verhätschelt, dass er nichts alleine auf die Reihe kriegt.
Viele Eltern sind unsicher, was die Erziehung betrifft
Sie verlassen sich nicht mehr auf ihre Intuition und den gesunden Menschenverstand. Sie überbehüten ihre Kinder, lassen sie beispielsweise nicht alleine den Schulweg bestreiten. Wie soll ein Kind da selbstständig werden?
Besonders absurd ist es dann, wenn genau diese Kinder schon in der Grundschule ein Smartphone bekommen, um jederzeit erreichbar zu sein, die Eltern dann aber überhaupt nicht kontrollieren, auf welchen Seiten sie surfen oder ob sie mit Fremden chatten. Oder total empört zu mir kommen und verlangen, dass ich dafür sorge, dass sie die Mitschüler nicht gegenseitig via WhatsApp mobben.
Überhaupt scheinen viele Eltern vergessen zu haben, dass es eigentlich ihr Job ist, ihre Kinder zu erziehen, nicht meiner. Etliche sehen in Kindergarten und Schule einen Dienstleister und schieben die Verantwortung für die Erziehung auf uns ab. Wenn ihr Kind beispielsweise in der Schule ständig stört, ist das mein Problem, nicht ihrs. Wenn es in der Schule unkonzentriert ist und deshalb daheim den ganzen Nachmittag vor seinen Hausaufgaben sitzt, gebe ich zu viel auf. Sie lassen ihrem Unmut dann auch schnell freien Lauf, anstatt gemeinsam nach konstruktiven Lösungen zu suchen.
Positives Verhalten materiell belohnen?
Apropos konstruktives Verhalten: Viele Eltern erziehen ihre Kinder heute, indem sie ihnen bei gutem Benehmen eine Belohnung in Aussicht stellen. Prinzipiell finde ich es richtig, positives Verhalten zu bestärken – aber das sollte nicht mit blankem Materialismus einhergehen. Kinder positiv zu bestärken heißt für mich, sie auf ihrem Lebensweg zu begleiten, Anteil zu nehmen, einfach für sie da zu sein.
Doch oft mangelt es Eltern schlicht an der Zeit dafür. Das ist es überhaupt, wovon Familien und Kinder viel zu wenig haben: Zeit! Unsere Abläufe sind derart verdichtet; dass Kinder ständig in viel zu knappe Taktungen gepresst werden, dabei haben sie ein ganz anderes Zeitgefühl, als wir. Wenn sie sich aber dem Zeitverständnis der Erwachsenen nicht sofort unterordnen, nicht sofort funktionieren, wird das wiederum sofort sanktioniert – das finde ich furchtbar!
Kinder heute haben viel zu wenig Zeit zum Spielen, viel zu wenig Zeit, um sich frei zu entfalten! Wenn wir einmal monatlich mit der Waldpädagogin, die wir zum Glück an meiner Schule haben, einen Ausflug machen, spielen die Kinder wunderbar zusammen, zeigen Sozialkompetenz!
Ungeeignete Lehrpläne
Dass viele Kinder Probleme mit dem Schulsystem haben, liegt meiner Meinung nach auch daran, dass wir ihnen viel zu wenig Zeit und Ruhe zugestehen und sie stattdessen in von Erwachsenen vorgegebene und an unser Leben angepasste Schemata pressen. Auch der Lehrplan beruht auf den Ansprüchen der späteren Arbeitswelt, nicht auf denen der Kinder. Er ist so vollgestopft mit Lehrinhalten, dass die Kinder überhaupt nicht die Möglichkeit haben, eigene Interessen zu entdecken und selbstständig zu arbeiten.
Gleichzeitig zielt er auf Schlüsselkompetenzen wie Selbsteinschätzung, Selbtsreflexion oder Selbstorganisation ab. Viele bringen dafür allerdings wie gesagt die Grundbedingungen wie Geduld, Konzentrationsfähigkeit oder das Vermögen, zuzuhören, gar nicht mit. Etliche haben eine ganz vereinfachte Sprache, sollen sich in der ersten Klasse aber ständig selbst reflektieren oder in Partnergesprächen ihre Mitschüler beurteilen. Da kann ich nur wieder meine Medienkritik üben und sagen: Sprechen lernt man eben nicht nur vor dem Fernseher.
Was die Voraussetzungen betrifft, die uns das Kultusministerium beschert, kann ich nur sagen, dass die Klassen an den Grundschulen viel zu groß sind. Gleichzeitig gibt es viel zu viele Kinder mit viel zu unterschiedlichen Bedürfnissen – und das sage ich, obwohl ich keine ausgewiesene Inklusionsklasse und auch keine „Problemklasse“ habe. Ich habe beispielsweise keine Kinder, die massiv Regelverstöße betreiben und den Rest der Klasse aufwiegeln.
Dennoch habe ich wie gesagt ein hochbegabtes Kind, das außerdem ADHS hat, ein Kind mit frühkindlichem Mutismus, das manchmal wochenlang nicht spricht, und ein Flüchtlingskind. Wären es 16, könnte ich allen gerecht werden. Oder wenn wir in einer so großen Klasse standardmäßig zu zweit wären, dann wäre es ebenfalls machbar.
Aber momentan habe ich das Gefühl, sie alle zu vernachlässigen
Einzelne zu vernachlässigen, obwohl ich eigentlich jedes Kind individuell fördern soll, das ist dem bayerischen Schulsystem übrigens immanent. Uns werden ständig neue Aufgaben aufgedrückt, ohne dass die finanziellen und personellen Ressourcen aufgestockt werden. Da denken sich Leute oben im Ministerium, die schon lange kein Klassenzimmer mehr von innen gesehen haben, innovative Programme aus, um sich damit zu schmücken – und wir müssen das dann an der Basis umsetzen.
Ein Beispiel ist die Inklusion behinderter Kinder in die Regelschule, die durch die Menschenrechtscharta mittlerweile vorgeschrieben ist. Wie praktisch für das Kultusministerium! Das klingt schick, modern, gleichberechtigt. Gleichzeitig ist es ein wunderbarer Deckmantel für ein Sparprogramm. Denn eine spezielle Förderschule oder ein zusätzlicher Lehrer für jede Klasse, das ist viel teurer.
Wenn allerdings wirklich alle Kinder unabhängig von ihrer Herkunft und anderen Startbedingungen gleichermaßen gefördert werden sollen, muss Geld in die Hand genommen werden. So bleiben alle Kinder, auch die nicht-behinderten, in ihren individuellen Bedürfnissen wieder auf der Strecke. Dasselbe gilt übrigens für die Integration von Flüchtlingskindern.
Wie soll ich mich ausreichend um ein Kind kümmern, das meist noch kaum Deutsch spricht, vielleicht sogar traumatisiert ist? Und dann oft schnell wieder aus meiner Klasse verschwindet, weil die Familie schon wieder umziehen muss? Wie soll ich ein Kind da in unsere Gemeinschaft integrieren?
Uns werden also ständig neue Aufgaben aufgebürdet Dadurch ufert auch die Bürokratie immer weiter aus. Wir müssen mittlerweile jeden unserer Schritte haarklein dokumentieren. Wenn ein Kind Probleme hat, kann ich zwar den mobilen sozialpädagogischen Dienst hinzuziehen und mit ihm einen detaillierten Förderplan entwerfen. Die Anträge dafür sind allerdings ein einziger Papierkrieg – und der zusätzliche Aufwand geht dann wieder von der Unterrichtsvorbereitung für den Rest der Klasse ab.
Bei schwerwiegenden Problemen, etwa dem Verdacht der Vernachlässigung, kann ich zwar das Jugendamt einschalten, aber auch das ist mit großen bürokratischen Hürden verbunden. Die Eltern müssen mich beispielsweise von meiner Schweigepflicht entbinden, was aber die wenigsten tun, sie haben ja meist tatsächlich einen Missstand zu verbergen.
Überhaupt wurde dem Elternwillen in den letzten Jahren viel zu viel Raum gegeben. Wenn ich beispielsweise der Meinung bin, dass ein Kind auf die Förderschule sollte, wo es im Übrigen in viel kleineren Klassen individuell auch besser gefördert werden könnte, wenn auch der sozialpädagogische Dienst und im Zweifel sogar ein Kinderpsychologe meine Empfehlung unterstützen, können Eltern das trotzdem einfach ablehnen. Dass meine Fachkompetenz dann einfach vom Tisch gewischt wird, das ist extrem frustrierend.
Von dem regelrechten Zeugnisterror, vor allem dem vor dem Übertritt in der vierten Klasse in die weiterführende Schule, will ich gar nicht erst anfangen. Ich kenne Kollegen, die freiwillig gar keine dritte und vierte Klasse mehr übernehmen wollen, denn der Druck der Eltern, ihr Kind wenigstens auf die Realschule schicken zu können, ist riesig.
Ich kann das übrigens verstehen, sie haben Panik, dass ihr Kind später keinen vernünftigen Beruf ergreifen kann ohne einen einigermaßen qualifizierten Abschluss. Seit Jahren fordern viele Lehrer auch deshalb, Kinder auch in der Mittelstufe weiter gemeinsam lernen zu lassen, was übrigens auch viel integrativer wäre – aber ohne Erfolg.
Ein neues System umzusetzen würde ja wieder Geld kosten!
Mich wundert der hohe Krankenstand unter Lehrern bei all diesem Druck überhaupt nicht, wir wandeln alle immer nahe des Burn-outs. Trotzdem kann ich mir keinen anderen Beruf vorstellen, denn ich bin trotz allem gerne Lehrerin. Natürlich machen etliche Eltern auch vieles richtig und schicken mir Kinder in die Schule, bei denen es eine Freude ist, sie unterrichten zu dürfen.
Überhaupt denke ich bei aller Kritik, die ich übe, immer an die Kinder, die ja gar nichts für die ganzen Miseren im Erziehungs- und Bildungssystem können. Ich mag Kinder sehr, möchte ihnen etwas beibringen, sie auf das Leben vorbereiten – und genau deshalb wäre es schön, wenn Staat und Eltern meine Kollegen und mich dabei mehr unterstützen würden. https://www.focus.de/familie/schule/chao...id_6750798.html Video: Wer schlechte Noten hat, ist noch lange kein Versager https://www.focus.de/regional/muenchen/f...id_6605865.html
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