Nach Tod von Clan-Mitglied Neuköllner Bürgermeister berichtet von „angespannter Stimmung“
Berlin-Neukölln
dpa/Paul ZinkenAm Tempelhofer Feld wurde der Mann durch Schüsse lebensgefährlich verletzt.
Dienstag, 11.09.2018, 22:11
Ein paar Kerzen brennen da, wo Unbekannte Berlins wohl bekanntesten Intensivtäter, Nidal R., am Sonntagnachmittag niedergeschossen haben. Jemand hat ein Schild aufgehängt, auf dem zu lesen ist: „Möge Allah dich segnen und dir deine Sünden vergeben.“ Der 36-jährige Familienvater war im Krankenhaus seinen Verletzungen erlegen.
Zwei Tage nach der Tat rätseln Politiker nun, wie sich die zunehmende Gewalt zwischen Mitgliedern arabischer Großfamilien eindämmen lässt. Der stellvertretende Bürgermeister von Neukölln, Falko Liecke (CDU), etwa fordert ein stadtweites Clan-Konzept, mit dem die Strukturen krimineller Großfamilien geschwächt werden sollen.
Öffentliche Hinrichtung
Für Nidal R. kommen solche Ansätze zu spät. Sein Todestag war ein Sonntagnachmittag bei strahlendem Sonnenschein. Auf dem Tempelhofer Feld grillen Familien, Pärchen liegen verträumt auf Decken oder spielen mit ihren Hunden, Kinder toben über das trockene Grün. Mitten im sonntäglichen Gewimmel ist auch Nidal R. mit seiner Frau und seinen Kindern unterwegs, als gegen 17.40 Uhr plötzlich vier Personen auf ihn zugehen. Dann peitschen in kurzer Folge acht Schüsse über das Gelände des ehemaligen Flughafens in Berlin-Neukölln. Vier Kugeln treffen Nidal R. in den Oberkörper, schwer verletzt geht er zu Boden. Die Täter können fliehen. Der Niedergeschossene kommt in die Benjamin-Franklin-Klinik in Steglitz.
Mehr als hundert Menschen versammeln sich noch in der Nacht vor dem Krankenhaus, drängen hinein. Es sind Angehörige und Verwandte unter ihnen, die sich um den Niedergeschossenen sorgen. Die Polizei bittet die Menschen auf Twitter darum, nicht zum Krankenhaus zu kommen. Schließlich versperrt sie ihnen den Zutritt. Krankenhausmitarbeiter sollen bedroht worden sein. Drinnen erliegt Nidal R. seinen Schussverletzungen.
Toter nach Schüssen in Berlin-Neukölln Paul Zinken/dpaZahlreiche Menschen haben sich vor dem Benjamin Franklin Klinikum versammelt. Ein 36-Jähriger ist am Tempelhofer Feld in Berlin-Neukölln von mehreren Schüssen getötet worden Stimmung in Neukölln "angespannt" „Der Vorfall hat eine neue Qualität“, sagt der Bezirksbürgermeister von Neukölln, Martin Hikel (SPD) zu FOCUS Online. Das nehme auch die Bevölkerung so wahr. Die Stimmung in seinem Bezirk beschreibt er als „durchaus angespannt“. Von einem Clan-Krieg will er aber nicht sprechen. Die Rivalitäten zwischen den Familien seien ein dauernder Konflikt, der bisher aber in Hinterzimmern ausgetragen worden sei, „nicht auf offener Straße“. Er sorgt sich um die Sicherheit der Bürger Neuköllns und ganz Berlins. Wenn die Konflikte zwischen den Familien jetzt so öffentlich ausgetragen werden, bestehe die Gefahr, dass Unbeteiligte verletzt würden, etwa durch Querschläger.
„Ich erwarte jetzt, dass die Staatsmacht an einem Strang zieht“, sagt Hikel. Es brauche mehr Personal, um die Bürger zu schützen, bei der Polizei, aber auch bei der Staatsanwaltschaft. Nur so könne auch eine schnelle Aufklärung gewährleistet werden. „Wir dürfen diese öffentliche Austragung von Streitigkeiten nicht tolerieren“, so der Bezirksbürgermeister.
Spekulation über Clan-Streitigkeiten Bis heute fehlt von den Tätern jede Spur. Man habe „gewisse Ermittlungsansätze“, sagt der Sprecher der Generalstaatsanwaltschaft Berlin, Martin Steltner, zu FOCUS Online. Welche das sind, könne er nicht sagen. Derzeit würden Zeugenaussagen ausgewertet und Bildmaterial gesichtet. Eskaliert in Berlin gerade ein Clan-Krieg? Man habe in letzter Zeit Auseinandersetzungen zwischen den Clans beobachtet, so Steltner. Nidal R. sei aber keine Kernfigur der Szene gewesen. Streit um Geld etwa könne genauso gut Hintergrund der Tat sein wie eigentlich belanglose Auseinandersetzungen. Wie der „Tagesspiegel“ berichtete, können schon Rangeleien um einen Parkplatz zu Gewaltausbrüchen im Milieu führen.
Dass Clan-Streitigkeiten hinter der Tat stecken, sei derzeit „reine Spekulation“, sagt Steltner. Die Tat auf offenem Feld, sie zeuge aber von einer „extremen Dreistigkeit“ seitens der Täter. Allerdings böte sie auch bessere Ermittlungsmöglichkeiten. Hunderte Menschen sind zumindest passiv Zeuge der Hinrichtung von Nidal R., haben die Schüsse gehört oder den Anschlag gesehen.
Mehrere Anschläge auf Leben von Nidal R. Die Berliner Polizei befürchtet nun, dass sich R.s Familie an den Tätern rächen könnte. Mit allen Mitteln werde die Polizei versuchen, Gegenreaktionen zu verhindern, man sende „deutliche Signale“ in die Szene, sagte Sebastian Laudan, Chef der Abteilung für Organisierte Kriminalität beim Landeskriminalamt (LKA) vor dem Innenausschuss des Berliner Abgeordnetenhauses, am Montag. Gleichzeitig beobachte die Polizei mit Sorge eine „Tendenz zur Bewaffnung“ unter den Angehörigen der Großfamilien.
Offenbar war es nicht das erste Mal, dass jemand einen Anschlag auf das Leben von Berlins bekanntestem Intensivtäter versuchte. Wie die „Berliner Zeitung“ schreibt, kam es vor einer Woche zu einer Schießerei vor einem Wettbüro am Britzer Damm. Zwei Freunde von Nidal R. wurden niedergeschossen, er selbst soll sich im Inneren des Büros aufgehalten haben, heißt es demnach aus Ermittlerkreisen. Nur ein Zufall sei es gewesen, dass R. das Wettbüro erst nach der Schießerei verlassen habe.
Am Freitag vergangener Woche dann der nächste Zwischenfall. R. sitzt in einem Café auf der Sonnenallee, als bis zu 30 Männer das Lokal betreten. Es kommt zu einer Schlägerei, R. flieht zunächst im Auto und liefert sich mit den Angreifern eine Verfolgungsjagd quer durch Neukölln. Nach einem Unfall entkommen R. und seine Begleiter zu Fuß.
Forderung nach Clan-Konzept für Berlin Der stellvertretende Bürgermeister von Neukölln Liecke sprach sich in der der „Berliner Zeitung“ für ein stadtweites Anti-Clan-Konzept aus. Es solle unter anderem verhindern, das Informationen über jugendliche Straftäter verloren gehen, sagte Liecke.
Wie auch der Bezirksbürgermeister Hikel verweist Liecke auf die enge Zusammenarbeit der Behörden in Neukölln. Richter, Staatsanwaltschaft, Polizei und Schulen säßen regelmäßig zusammen. So soll der Informationsaustausch verbessert und das Abrutschen der Jugendlichen in die Kriminalität verhindert werden. Denn um die Strukturen krimineller Großfamilien langfristig zu schwächen, müsse man dafür sorgen, dass die Kinder der Familien aus den kriminellen Strukturen ausbrechen können, so Liecke in der „Berliner Zeitung“.
Im Video: Vermögen beschlagnahmt - Verlieren Autos und Immobilien: Mit neuem Gesetz gelingt Berlin Schlag gegen Clans https://www.focus.de/politik/deutschland...id_9570993.html
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