23.11.2015 15:30 Kommentar: Die rote Linie der Kanzlerin Von Stefan Rehder
Stefan Rehder.
Ob Horst Seehofer Angela Merkel auf offener Bühne demütigte oder nicht, ist eine Frage, über die Streit gar nicht lohnt. Fest steht: Dass Bayerns Ministerpräsident Deutschlands Kanzlerin bei ihrem Besuch des CSU-Parteitags nötigte, sich eine Viertelstunde lang anzuhören, wie wenig er von ihrer zuvor gehaltenen 25-minütigen Rede hielt, hat das Verhältnis der beiden Schwesterparteien nicht entkrampft. Wie nachhaltig Seehofer Merkel und die CDU damit traf, wird sich wohl in drei Wochen zeigen. Dann nämlich soll der CSU-Chef zum „Gegenbesuch“ auf dem CDU-Parteitag in Mannheim erscheinen.
Worüber zu streiten lohnt, ist etwas anderes. Muss Merkels Weigerung, der CSU weiter entgegenzukommen, als sie dies in München tat, als das Markieren einer roten Linie verstanden werden? Und falls ja, wie ließe sich erklären, dass dieselbe Kanzlerin, die bei der Atompolitik, der Abschaffung der Wehrpflicht und der Griechenlandhilfe keine Probleme damit hatte, jeweils eine 180-Grad-Wende zu vollziehen, sich in der Flüchtlingspolitik bislang derart kompromisslos zeigt. Kluge Köpfe meinen, Merkel wisse, dass das Flüchtlingsproblem nur europäisch zu lösen sei und dass nur ein Land, das selbst mit gutem Beispiel vorangeht, auch die Solidarität der anderen EU-Staaten mit halbwegs Aussicht auf Erfolg einfordern könne. Andere glauben zu wissen, der Kanzlerin hätten sich die Begegnung mit dem Flüchtlingsmädchen Reem und das Bild des an den Strand gespülten ertrunkenen Flüchtlingsjungen eingebrannt.
Es gibt aber noch eine andere plausible Erklärung für Merkels Kurs: Anders als Seehofer und weitere Unions-Politiker, die einen weitaus härteren Kurs in der Flüchtlingspolitik fordern, ist Merkel in der DDR groß geworden. In einem Unrechtsstaat also, der seine Bürger eingesperrt, geknechtet, überwacht und gefoltert hat. Der an der Grenze einen Todesstreifen errichten und an der Mauer auf die eigenen Bürger schießen ließ. So etwas prägt zweifellos. Gut möglich, dass ein Politiker, der dies hautnah erlebt hat, eine andere Sensibilität dafür entwickelt, dass Grenzzäune und Stacheldrähte die Probleme nicht lösen, als diejenigen, die das Glück hatten auf der anderen Seite der Mauer aufzuwachsen. Wolfgang Schäuble, Horst Seehofer und Thomas de Maiziere hatten zumindest dieses Glück. Leicht hatten aber auch sie es nicht. Sie sind im Nachkriegsdeutschland aufgewachsen. Statt um das Erringen der Freiheit mussten sie sich um die Bekämpfung der Armut und um die Sicherung und Wahrung des Wohlstandes mühen. Auch das prägt. Nur eben anders.
Dass Politiker unterschiedliche Prioritäten setzen, kommt täglich vor. Auch bei CDU und CSU. Dass sie sich aber über einen derart langen Zeitraum unfähig zeigen, in einer derart virulenten Frage einen Kompromiss zu erzielen, darf als ungewöhnlich gelten. Alles sei Biografie, behaupten Genderforscher. Das ist sicher falsch. Was nicht heißt, dass sich manches nicht doch biografisch erklären lässt. (Siehe auch S. 3)
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