28.12.2015 14:40 Warum muss Gott barmherzig sein?
Der Türkei-Experte, katholische Pfarrer und Islam-Beauftragte der Erzdiözese Wien, Martin Rupprecht, sieht Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Verständnis der Barmherzigkeit von Christen und Muslimen. Von Stephan Baier : Islam-Experte Martin Rupprecht (links) mit dem Wiener Kardinal Christoph Schönborn. Zwischen ihnen ist in der zweiten Reihe der Präsident der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich, Fuat Sanac, zu sehen.
Papst Franziskus hat am 8. Dezember ein „Heiliges Jahr der Barmherzigkeit“ eröffnet. Auch gläubige Muslime rufen Gott als den „Allbarmherzigen“ und „Allerbarmer“ an. Was versteht der Islam unter der Barmherzigkeit Gottes?
Jede der 114 Suren des Koran beginnt mit dem Wort „Im Namen Gottes des Allerbarmers, des Barmherzigen“. Das Wort „rahma“, Barmherzigkeit, kommt als Eigenschaft und als Name Gottes mehr als 700 Mal im Koran vor. Es ist das zentrale Verstehen wie Gott in sich ist, und wie er zu den Menschen, seinen Dienern, ist: Gott gewährt Güte, ohne dass der Mensch es verdient. Der türkische Geistliche Bediüzzaman Said Nursi (gestorben 1960) schreibt dazu:
„Das, was diesen unendlichen Kosmos belebt, ist, wie wir augenscheinlich bezeugen können, Barmherzigkeit. Und das, was die Finsternis allen Seins erleuchtet, ist eindeutig wieder die Barmherzigkeit. Und das, was diesen vergänglichen Menschen zum Anwärter für die Ewigkeit macht und den Herrn aller Ewigkeit zu seinem Ansprechpartner und Freund macht, ist eindeutig die Barmherzigkeit. Oh Mensch! Da die Barmherzigkeit nun einmal eine so starke, reizvolle, liebenswerte, hilfreiche, geliebte Wahrheit ist, sage ,Bismillahi r-Rahmani r-Rahim – im Namen Gottes des Allerbarmers, des Barmherzigen', hefte dich an diese Wahrheit und errette dich vor absoluter Einsamkeit und vor den Plagen zahlloser Bedürfnisse!“
Wie groß ist die christlich-islamische Schnittmenge im Verständnis von der Barmherzigkeit und dem Erbarmen Gottes? Und wo liegen die Auffassungsunterschiede?
Die Überschneidung ist recht groß, dennoch haben wir ein anderes Gottes- und Menschenbild. Der Islam ist wie das Judentum eine Gesetzesreligion. Das klingt für uns negativ, durch den andauernden Disput Jesu mit den Gesetzeslehrern. Es ist aber nicht per se so schlecht wie wir vermuten. Das Christentum ist eine Beziehungsreligion: Unser Verhältnis zu Gott leitet sich ab aus der Beziehung, die wir zu Christus haben, und er zu uns. Insofern gibt es schon große Unterschiede. Ich spreche hier natürlich als Christ über den Islam, und eine Außensicht hat immer auch ihre Grenzen.
Bietet das Thema „Barmherzigkeit“ dennoch die Chance zu einem genuin theologischen Dialog zwischen Christen und Muslimen?
Natürlich ist dieses Thema wie geschaffen für die theologische Auseinandersetzung. Es führt auch hin zur permanenten Frage der Zuordnung von Freiheit, Vorsehung und Schicksal. Warum muss Gott barmherzig sein? Wenn er die Naturgesetze erschaffen hat, läuft alles, wie es die Natur vorsieht? Wenn Gott eingreift, wie frei sind wir dann? Nach islamischer Auffassung ist es Schicksal, als Christ oder Muslim geboren zu sein. Da Gott aber den Mitgliedern der Umma mehr Gnade zukommen lässt, wird er barmherzig an jenen handeln, die zwar nicht Muslim sind, sich aber durch ein reines Leben ausgezeichnet haben. Ist Gottes Walten also ein reines Tun aus Gnade? Gnade verstanden als ein großzügiges Handeln des Herrschers an seinen Dienern. Hier erinnern wir uns an das Wort Jesu aus dem Johannesevangelium:
„Ich nenne euch nicht mehr Knechte, sondern Freunde“. Damit wird ein Unterschied zwischen Christentum und Islam deutlich: Das Verhältnis Gottes zum Menschen wird im Islam mit Herr und Diener umschrieben, im Christentum mit Vater und Kindern, oder Brüder und Schwestern Jesu. Welche Auswirkung hat diese andere Verhältnisbeschreibung von Gott und Mensch auf den Moralkodex der Glaubenden? Es ergeben sich viele Fragen für den theologischen Austausch und Dialog. Er soll ja hin münden nicht nur in ein besseres Wissen um den je Anderen, sondern aus dem Dialog sollen Handlungsanweisungen für ein besseres Miteinander entstehen.
Folgen aus islamischer Sicht aus der Barmherzigkeit Gottes auch so etwas wie unsere „Werke der Barmherzigkeit“, zu denen der Mensch gerufen ist?
Ein überliefertes Wort von Mohammed lautet: „In den Zeiten, in denen eure Herzen voller Barmherzigkeit sind, verpasst nicht die Gelegenheit das Gebet auszuüben.“ Der türkische Theologe Yaºar Nuri Öztürk kommentiert dieses Wort so: „Die am meisten geschätzten Gebete besitzen die barmherzigen Menschen.“ Ein anderer türkischer Theologe, Osman Nuri Topbaº, schreibt: „Von all Seinen vielen Eigenschaften begegnet Allah Seinen Dienern am meisten durch die, die Seinen göttlichen Namen ,der All-Gnädige' und ,der All-Barmherzige' entspringen und inspiriert dadurch seine Diener mit Barmherzigkeit. Wer seinen Herrn liebt, der behandelt auch Seine Geschöpfe freundlich und mit Liebe. Selbst das Töten einer gefährlichen Giftschlange sollte deshalb in einer Weise geschehen, die kein unnötiges Leiden verursacht.“
Barmherzigkeit ist also grundsätzlich allen Geschöpfen entgegen zu bringen. Im Fastenmonat Ramadan wird zu den Werken der Barmherzigkeit aufgerufen. So zum Bespiel niemanden in der Nachbarschaft allein zu lassen, einen Teil der Einkünfte den Armen zu spenden, das Iftar-Essen am Abend im Ramadan für andere zu bezahlen, Kranke zu besuchen. Solche und ähnliche Verhaltensregeln lassen sich in den verschiedenen Katechismen finden. Aber es gibt jetzt keine systematisierte Zusammenstellung wie sie die katholische Tradition in den Werken der Barmherzigkeit auflistet.
Die „Werke der Barmherzigkeit“ beziehen sich aus christlicher Sicht ja nicht nur auf Mit-Christen, eines sogar ausdrücklich auf die „Fremden“. Gibt es im Islam auch so etwas wie eine Forderung nach Barmherzigkeit gegenüber jenen, die nicht Muslime sind, also nicht zur Umma gehören?
Da gibt es unterschiedliche theologische Ansätze. Grundsätzlich weist der Koran darauf hin, dass alle Menschen von Adam und Eva abstammen und wir deshalb Geschwister sind. Auch sind alle Geschöpfe von Gott geschaffen und müssen als sein Eigentum geschützt werden. Auf der anderen Seite ist es das Recht der Umma, Gefahren abzuwehren, und alles zu meiden, was gottlos ist. Und da gehen die Interpretationen weit auseinander.
Aus der vielfältigen Welt des Islam tritt uns heute am sichtbarsten und hörbarsten eine gewalttätige, terroristische, unter Berufung auf den Glauben mordende – also gänzlich unbarmherzige – Islam-Deutung entgegen. Wie meinen der sogenannte „Islamische Staat“, Boko Haram, Al-Kaida und die anderen islamistischen Terrornetzwerke sich in ihrem unbarmherzigen Handeln auf den allerbarmenden Gott berufen zu können?
Die Sicht ist für sie ganz einfach: Gott ist barmherzig allen gegenüber, die ihn annehmen und seine Gebote halten. Alles was Gottes Wille bedroht, muss bekämpft werden. Der jeweilige Machthaber, der Khalif – also der Stellvertreter Gottes auf Erden und damit der Interpret seines Willens – oder die entsprechende Gruppe erklärt, was Gottes Willen ist. Diese Einstellung widerspricht aber der großen Tradition der Koranauslegung:
Es gibt Regeln, wer den Koran auslegen darf, wer ein Rechtsgutachten – eine Fatwa – erstellen darf und wer nicht, und wie verbindlich etwas ist. Für eine Koran-Interpretation muss man zum Beispiel wissen, was die Bedeutung des arabischen Wortes meint, dann unter welchen Umständen etwas offenbart wurde, und wer die Zielperson war. Ebenso, warum dieser Vers offenbart wurde, und was Mohammed zu diesem Vers sagte. Die Salafisten lehnen die ganze Auslegungsprozedur vollkommen ab. Sie anerkennen nur den wörtlichen Satz.
Gibt es in der islamischen Welt einen theologisch – nicht bloß politisch – argumentierten Widerspruch gegen die terroristischen Islamisten, also islamische Autoritäten, die religiös begründete Gewalttaten als Blasphemie und Lästerung des barmherzigen Gottes verurteilen? Es gibt eine Fatwa von 120 sunnitischen Gelehrten gegen den „Islamischen Staat“. Anhand der Formulierung zeigt sich natürlich, dass der Islam als Gesetzesreligion eine andere innere Herangehensweise hat. Die Fatwa listet auf, was alles verboten ist, was gegen die guten Grundsätze der Religion verstößt. Sie ist sehr in den Kategorien „erlaubt-verboten“ abgefasst. Ein anderes Dokument ist aus dem Jahr 2007 der Brief der 138 islamischen Theologen an Papst Benedikt XVI. als Antwort auf dessen „Regensburger Rede“.
Dort heißt es: „Es gibt zahlreiche Vorschriften im Islam über die Notwendigkeit und die vorrangige Bedeutung der Liebe zum Nächsten, und der Barmherzigkeit gegenüber dem Nächsten. Die Liebe zum Nächsten ist ein essenzieller und integraler Bestandteil des Glaubens an Gott und der Liebe zu Gott, weil es im Islam ohne die Liebe zum Nächsten keinen wahren Glauben an Gott und keine Rechtschaffenheit gibt. Der Prophet Mohammed sagt: ,Niemand von euch hat Glauben, wenn er nicht seinen Bruder so liebt, wie sich selbst.' Und: ,Niemand von euch hat Glauben, wenn er nicht seinen Nächsten so liebt, wie sich selbst.' Dennoch sind Empathie und Mitgefühl für den Nächsten – und sogar formale Gebete – nicht genug. Sie müssen begleitet sein von Großzügigkeit und Selbstaufopferung. Gott sagt im Heiligen Koran:
,Nicht darin besteht Tugend, dass ihr euer Antlitz nach Osten oder nach Westen kehrt, sondern wahrhaft gerecht ist der, welcher an Allah glaubt und an den Jüngsten Tag und an die Engel und das Buch und die Propheten und aus Liebe zu Ihm Geld ausgibt für die Angehörigen und für die Waisen und Bedürftigen und für den Wanderer und die, die um eine milde Gabe bitten, und für den Loskauf der Gefangenen, und der das Gebet verrichtet und die Zakât zahlt; sowie jene, die ihr Versprechen halten, wenn sie eins gegeben haben, und die in Armut und Krankheit und in Kriegszeit Standhaften; sie sind es, die sich als redlich bewährt haben, und sie sind die Gottesfürchtigen.' (,Die Kuh', Sure 2:177) Und ebenso:
,Nie könnt ihr zur vollkommenen Rechtschaffenheit gelangen, solange ihr nicht spendet von dem, was ihr liebt; und was immer ihr spendet, wahrlich, Allah weiß es wohl.' (,Das Sippe Imrans', Sure 3:92) Wenn wir nicht dem Nächsten das geben, was wir selber lieben, lieben wir weder Gott wirklich, noch den Nächsten.“
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